[Neun] - Verheilte Wunden bluten nicht mehr

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»Wie geht es dir?«, fragt er ungewohnt freundlich. »Hab' lange nichts mehr von dir gehört.«
Könnte daran liegen, dass sich unsere Wege vollkommen getrennt haben
. Am liebsten würde ich ihn so abweisend wie möglich behandeln, aber es gibt keinen Grund, solange er freundlich zu mir ist und die Distanz wahrt, die ich benötige.
»Wieso hast du mich überall blockiert?«
»Damit Ruhe reinkommt«, antworte ich ehrlich. Denn ja, irgendwann bin ich diesen Schritt gegangen, weil seine Stimmungsschwankungen einfach nur noch anstrengend waren. Den einen Moment freundlich, ein Atemzug später eine Flut an Vorwürfen. Und immer wieder dasselbe leidige Thema, das fünf mal durchgekaut, verdaut und wieder ausgekotzt wurde.
So ist nun auch jetzt wieder die Angst da, dass das Gespräch in eine Richtung geht, die mir gar nicht gefällt.
Zunächst nickt er nur stumm, als würde er mir zustimmen und sogar dankbar darüber sein. Aber seine Miene passt dann doch nicht zu seinen Worten.
»Ich habe nie aufgehört, an dich zu denken«, gesteht er. »Ich habe dir immer mal wieder geschrieben, in der Hoffnung, dass meine Nachrichten irgendwann zu dir durchkommen.«
»Du bist kein Teil meines Lebens mehr«, wage ich mich zu sagen und hoffe, er reagiert darauf nicht so allergisch, wie ich es befürchte.
»Ich weiß.« Es ist ihm deutlich anzusehen, wie er mit sich selbst ringt, die Fassung zu halten. »Ich habe dich auch einmal besuchen wollen, weil ich noch Sachen von dir gefunden habe, dich aber nicht erreichen konnte. Wohnst wohl nicht mehr in Little Haiti, was? Zumindest steht dein Name auf keiner Klingel mehr.«
»Ich bin tatsächlich umgezogen«, schmunzle ich. »Aber selbst wenn nicht, hättest du meinen Namen nicht mehr dort gefunden.«
Einen Moment sieht er mich fragend an, scheint es dann aber zu begreifen. »Stimmt. Hab' gehört du hast geheiratet.« Aus irgendeinem Grund scheint er das nicht so recht zu glauben, weshalb ich meine rechte Hand nach oben halte, um ihm den Ring zu zeigen.
»Vor drei Jahren.«
Er nickt und zwingt sich sichtbar dazu, nicht auf das Thema Heirat einzugehen. »Und ich hab' auch gehört, dass du jetzt sogar ein eigenes Unternehmen besitzt.«
Selbst in einer Stadt wie Miami bleibt es nicht aus, Menschen zu begegnen, die man aus alten Tagen kennt und die auch noch in Kontakt zu Martin stehen, weshalb es mich wenig überrascht, dass er davon erfahren hat.
So, wie ich ihn kenne, hat er aber auch immer recherchiert und nach Informationen über mich gesucht.

»Mom!«, höre ich Chesters Stimme und sehe den Jungen auf mich zurennen. In seiner Hand einen bunten Karton. »Darf ich das haben? Bitte?« Er ist ganz euphorisch und aufgeregt, während er mir die Schachtel entgegen hält. Es ist eine dieser Actionfiguren einer Zeichentrickserie, die er immer gerne guckt. »Den hab' ich noch nicht!«
»Was soll er denn kosten?«
»Nicht viel.«
Tadelnd hebe ich eine Augenbraue, weil das nicht die Antwort auf meine Frage war.
Seine Lippen rollen sich zusammen, während sich seine Augen groß und rund formen und zu funkeln beginnen, während er die Packung so dreht, dass ich das Preisschild sehen kann.
Tatsächlich wurde diese Figur stark reduziert und ist im Verhältnis zum regulären Preis erheblich günstiger. Aber das ist nicht der Grund, wieso ich ihm dieses Spielzeug tatsächlich genehmige. Nach einem solchen Tag möchte ich ihm ein wenig Glück bescheren, weshalb ich ihm mit einem Lächeln zunicke.
»Ja!!«, freut er sich, hängt sich mit seinen Armen an den Einkaufswagen dran, während er das Spielzeug anhimmelt.

»Du achtest wirklich noch auf Geld?«, fragt mich Martin etwas zu süffisant.
»Tue ich«, bestätige ich. »Denn ich möchte, dass mein Sohn den Wert von Geld zu schätzen weiß.«
»Dein Sohn?« Musternd wandert sein Blick zu Chester. »Wie alt ist er?« Seine Stimme wird so leise, wie seine Augen kleiner werden.
»Fünf.« Ich ahne schon, worauf das gleich hinauslaufen wird. Zumal ich an seinem Gesicht erkenne, wie er nun rechnet.
»Wir sind seit fünf Jahren getrennt«, beginnt er. »Ist das der Grund, wieso du mich verlassen hast? Weil du von irgendeinem anderen schwanger warst?«
»Nein«, schüttle ich den Kopf.
»Mein Kind ist er nicht«, gibt er mit einem leicht fauchenden Ton von sich. »Denn wir hatten ja keinen Sex mehr!«
Und es geht los. Ich verdrehe genervt die Augen. Am liebsten würde ich gehen, aber ich kann nicht ewig die Flucht antreten, obwohl ich weiß, dass es insbesondere bei Martin die einzige Möglichkeit ist, ihn loszuwerden. »Ches wird dieses Jahr noch sechs.«
»In drei Monaten und elf Tagen!«, schaltet sich Chester ein und hebt erst drei Finger nach oben, dann zeigt er elf.
»Wäre er das Kind aus einer der vielen Affären, die du mir unterstellst, wäre ich schon sichtbar schwanger gewesen, bevor wir uns getrennt haben«, kläre ich Martin auf und korrigiere seine Berechnung. »Geboren hat ihn meine Frau«, erzähle ich weiter, als ihm offensichtlich nichts mehr einfällt.
»Deine Frau??« Seine Augen weiten sich überrascht, weshalb auch ich nun überrascht bin. Er weiß, dass ich geheiratet habe, aber nicht, dass es eine Frau ist?
Na gut, man hat ihm damals ja auch nur erzählt, mich knutschend auf dem Jahrmarkt gesehen zu haben, aber nicht, dass es eine Frau gewesen ist, mit der ich innig gewesen bin.
»Jolene«, lächle ich. »Du hast sie damals kennengelernt.«
»Diese Rothaarige?? Die mich am Telefon bedroht und dann meine Wohnung gestürmt hat, um deine Sachen zu holen??«
Ich nicke lediglich.
»Das hättet ihr auch einfacher haben können!«, zischt er nun. »Aber dann weiß ich ja nun, wieso du mich so lange nicht mehr rangelassen und mich letztlich verlassen hast.«
Okay, offensichtlich ignoriert er immer noch die Tatsache, dass er es gewesen ist, der mich aus der gemeinsamen Wohnung geworfen und die Beziehung beendet hat.
»Weil du auf Frauen stehst!«, ist schließlich seine Schlussfolgerung.
»Das ist nicht richtig«, wehre ich mich, obwohl es vermutlich nur verschwendete Energie ist. Wenn sich Martin eine Meinung gebildet hat, ist er kaum vom Gegenteil zu überzeugen. »Ich hatte einfach keine Lust mehr auf Sex mit dir.« Ich muss kurz in mich gehen, ehe ich weiter spreche, weil ich seine Atmung schon wieder so pulsieren sehe. »Ich habe Jolene nicht geheiratet, weil ich auf Frauen stehe«, beginne ich zu erklären, auch wenn selbst das nichts bringen wird, »sondern weil es einfach schön mit ihr ist. Sowohl das Miteinander, als auch der Sex.«
Ich weiß nicht woher diese kleine Biestigkeit kommt, aber es tut mir gut, ihm das so um die Ohren zu hauen und an seinem männlichen, übergroßen Ego zu kratzen.

Von Chester kommt ein Geräusch des Ekels, als ich das Wort in den Mund genommen habe. »Das ist voll ekelhaft«, gibt er entrüstet von sich, tätschelt dann aber meinen Arm. »Aber ich weiß ja, dass ihr das machen müsst, wenn euch der Storch ein Baby bringen soll«, gibt er neunmalklug von sich und widmet sich wieder seiner Actionfigur.
Nachdem Martin das wohl verdaut hat, beginnt er zu schmunzeln. »Ihr versucht ein Baby zu bekommen? Du und diese Rothaarige?«
Ich nicke lediglich.
»Euch ist aber schon klar, dass ihr dafür einen Mann braucht?«, fragt er süffisant und deutet dabei an sich hinhab.
»Wir haben einen Mann dafür«, beantworte ich betonend.
»Ja! Nämlich meinen Daddy!«, kommt es von Chester.
Mein erster Reflex ist, diese Aussage zu dementieren, aber im selben Moment kommt mir ein Gedanke, weshalb ich dann doch den Mund halte und das so im Raum stehen lasse.

Martins Fassade bröckelt nun, denn seine anhaltend freundliche Miene verändert sich. Sein Blick wird missgünstig und fast schon beleidigt. »Du wolltest nie Kinder. Was hat sich geändert?« Obwohl er durchaus vorwurfsvoll klingt, kann er sich zusammenreißen und seine Wut im Zaum halten.
Ob Chester der Grund dafür ist? Oder all die Leute in diesem Laden? Immerhin möchte er ja nicht, dass die Leute schlecht von ihm denken. Sie würden es aber tun, wenn er als Mann eine Frau mit Kind anschreit.
Ein Guter Zeitpunkt, diese Situation auszunutzen?
»Ich wollte Kinder, Martin. Schon immer. Nur halt nicht mit dir. Nicht in dieser desolaten Beziehung, die wir geführt haben.«
»Desolate Beziehung? Unsere Beziehung lief gut!«, behauptet er. »Wir waren glücklich und wollten heiraten!«
»Du wolltest heiraten«, widerspreche ich.
Er schnaubt wütend und kämpft gegen den Drang an, weiter darauf einzugehen. Letztlich schließt er kurz seine Augen und nimmt einen tiefen Atemzug, um sich selbst wieder zu besinnen. Entspannt lässt er seine Schultern hängen und lächelt mich nun an.
»Bin jetzt auch wieder in einer Beziehung«, berichtet er. »Sie ist die Liebe meines Lebens. Noch nie war ich so glücklich mit jemanden.«
Ja, das hast du damals über mich auch gesagt
. »Das freut mich«, erwidere ich sein Lächeln und gehe gar nicht darauf ein, dass er sich gerade selbst Widersprochen hat. Vielleicht war das aber auch sein Ziel gewesen: Mich zu provozieren, um das Thema anzuschneiden, damit er mir wieder die Schuld an dem Streit geben kann.
»Ja, wir wollen ...«, beginnt er, wird aber von Chester unterbrochen, der meine Aufmerksamkeit wünscht, mein Bein fest umklammert und mich mit seinen grünen Augen treuherzig ansieht.
»Wann gehen wir weiter?«, nörgelt er, weil er sein neues Spielzeug genug bewundert hat und nun endlich damit spielen will.
»Jetzt«, antworte ich ihm. Für seine Unterbrechung bin ich ihm wirklich dankbar.
Entsprechend lächle ich Martin entschuldigend an. »Wir müssen dann«, verabschiede ich mich.
»Ja, natürlich«, zeigt er Verständnis. »Vielleicht beim nächsten Mal. Haben uns bestimmt viel zu erzählen. Meld' dich mal«, bietet er fröhlich an und winkt.
»Ja, vielleicht«, bleibe ich freundlich. Natürlich hoffe ich, dass es kein nächstes Mal geben wird.

»Wer war das, Mom?«, will Chester dann neugierig wissen, verzieht dabei aber das Gesicht, als hätte ihm das eben nicht gefallen.
»Ich war mit ihm zusammen, bevor ich deine Mama kennenlernte«, antworte ich ihm, obwohl ich das nur sehr ungerne ausspreche.
»Ich finde den doof. Der war komisch!«
»Ja«, stimme ich ihm zu und muss dabei lachen. »Ich bin wirklich froh, deine Mama kennengelernt zu haben. Sie ist der beste Mensch der Welt.« Ich wuschle zunächst durch seine Locken, gehe dann in die Knie, um ihn einen Kuss zu geben.

»Mom?« Immer noch sieht er mich mit großen Augen an. »Wann bekommst du denn ein Baby?«
Diese Frage überrascht mich zunächst, und ich muss selbst nachdenken, wie ich ihm diese beantworten kann, ohne, dass er meine Antwort hinterfragt.
Während ich überlege, stehe ich auf, hebe Chester hoch und setze ihn im Einkaufswagen ab, um noch die letzten Sachen zu holen und dabei schneller voranzukommen.
»Das weiß ich nicht«, ist letztlich das, was ich ihm sage. Schließlich tue ich es tatsächlich nicht. Denn noch bin ich nicht mutig genug, diesen Schritt noch einmal zu gehen und wer weiß, wie lange es dauert, bis ich es noch einmal wagen möchte.
Andererseits hat Chester vorhin etwas gesagt, das mir einen kleinen Lichtschein am Ende des dunklen Tunnels schenkt. Die Frage ist nur, ob Jolene da mit macht.
»Mom?«, verlangt er erneut meine Aufmerksamkeit. »Wenn du ein Baby bekommst, machst du dann ein Mädchen?«
Für einen kurzen Augenblick bin ich über diese Frage irritiert, muss dann aber doch lachen. Unschuldige Kinderfragen sind einfach zu süß. »Du möchtest also eine kleine Schwester?«
»Ja«, nickt er.
»Darauf habe ich keinen Einfluss«, erkläre ich ihm, weshalb er einen Schmollmund zieht. »Aber du kannst es dir vom Weihnachtsmann wünschen, vielleicht erfüllt er dir den Wunsch«, schlage ich ihm vor.
»Ja!«, gibt er mir Recht. »Gute Idee!«
Erneut strubbel ich ihm durchs Haar. Irgendwie sorgt es für ein sonderbares, aber doch schönes Gefühl, von Chester zu hören, sich noch ein Geschwisterchen zu wünschen - von mir und seiner Mutter.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt