[Dreiundneunzig] - Das Herz so schwer

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Ich bin wirklich froh, nicht noch den ganzen Sonntag im Krankenhaus verweilen zu müssen. Schon um acht Uhr macht Winnie ihre erste routinemäßige Untersuchung und entlässt mich nach einem Gespräch über mein Empfinden und meine emotionale Verfassung, um zu verhindern, dass ich in wenigen Stunden wieder hier lande, weil es mich dann doch nochmal überwältigt.
Aber ich will stark bleiben und mich beherrschen. Es nützt niemanden etwas, wenn ich mich ständig von meinen Gedanken überrollen lasse; vor allem nicht mir oder dem Baby.
Um aber ganz sicher zu gehen, haben wir uns darauf geeinigt, dass ich mich für die Tage, die Jolene mit Cormack in New York sein wird, bei meinen Eltern einniste. So bin ich nicht alleine, und schon gar nicht in dem Haus, in dem meine Erinnerungen an Morgan zu präsent sind.

Jolene durfte die ganze Nacht bei mir bleiben. Das hat mir geholfen, einen relativ ruhigen Schlaf zu finden. Zwischendurch überkamen mich meine Träume, die mich aus dem Schlaf gerissen haben, aber Jolene war da und konnte mich sofort wieder beruhigen. Ihre Nähe tat mir gut. Ohne diese wäre die Nacht gewiss viel schrecklicher gewesen und ich hätte bei dem Gespräch mit Winnie ganz sicher nicht meine Entlassung erwirken können.
Ursprünglich hatte man uns ein zweites Bett dazu stellen wollen, aber dieses Angebot haben wir beide abgelehnt. Zuhause schlafen wir in unserem zwei Meter breiten Bett auch eigentlich nur auf einem halben Meter, da war es für uns kein Problem, mal eine Nacht auf nur einem Meter zu schlafen.

Draußen vor dem Gebäude nehme ich einen großen Atemzug und inhaliere die Luft der Freiheit. Ich fühlte mich die letzten 24 Stunden so eingesperrt und beobachtet; keinerlei Privatsphäre. Kein schönes Gefühl.
Und weil es mir nicht schnell genug gehen konnte, habe ich sogar das Frühstück verweigert und Jolene dazu überredet, dieses irgendwo anders zu uns zu nehmen. Mit einem verständnisvollen Schmunzeln hat sie zugestimmt.
Und so sitzen wir jetzt hier in diesem kleinen Café. Vor mir ein Teller mit einem Bagel, belegt mit Frischkäse und ganz viel Paprika, und ein weiterer Teller mit Rührei und Speck. Ich habe wirklich Kohldampf, nachdem das Essen im Krankenhaus alles ist - nur nicht lecker und sättigend.
Jolene sitzt mir gegenüber und umklammert lediglich eine Tasse Kaffee, während sie mich amüsiert ansieht.
»Was ist mit dir?«, frage ich sie und sehe sie musternd an.
»Keinen Hunger«, antwortet sie und schüttelt den Kopf.
»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, hake ich nach. Denn seit sie gestern wieder ins Krankenhaus kam, hat sie nichts weiter zu sich genommen.
Als wäre das schon ewig her, zuckt sie mit den Schultern. »Vermutlich vorgestern.«
»Jolene«, raune ich und schiebe ihr bedeutend den Teller mit den Eiern und dem Speck entgegen. Sie aber streckt ihre Hand aus und will mich daran hindern.
»Du isst für zwei«, merkt sie an und lächelt.
»Und du für niemanden«, kontere ich und bestehe darauf, dass sie etwas zu sich nimmt. »Es hilft uns nicht, wenn du diejenige bist, die als nächstes umkippt und im Krankenhaus liegt.«
Sie schnauft und ergibt sich endlich. Wenn auch etwas widerwillig, aber sie isst.
Trotzdem stibitze ich ihr immer wieder etwas Ei und Speck, aber den größten Teil überlasse ich ihr.

Anschließend sitzen wir wieder im Auto. Jolene lenkt den monströsen Pick-Up durch die Straßen, das Radio hat sie bewusst ausgeschaltet, weil es natürlich immer noch nur um das Unglück bei Jacksonville geht, das sich vor zwei Tagen ereignet hat.
Mein Blick ist nach draußen auf die Straße gerichtet und ich beobachte sämtliche Fußgänger, die dort laufen, Straßen überqueren, mit dem Kinderwagen oder dem Hund spazieren gehen. Begutachte Autos, die neben uns herfahren, am Straßenrand geparkt sind, oder die Kreuzung vor uns überqueren.
Dabei bemerke ich, dass Jolene gar nicht geradeaus fährt, wo wir aber hin müssten, wenn wir unser Zuhause erreichen wollen. Stattdessen biegt sie links ab.
Zunächst glaube ich, sie fährt zu meinen Eltern, um Chester abzuholen, oder um mich dort direkt abzusetzen, dann aber biegt sie wieder links ab und befährt die State Road 112.
Jene Straße, die geradewegs zu Amber führt.
»Wo fährst du hin?«, frage ich trotzdem und sehe sie skeptisch an.
»Zu Amber«, bestätigt sie meine Vermutung. »Ich habe gesagt, dass ich nicht aufhöre, ehe ich etwas von ihr gehört habe. Und bevor ich mich morgen mit ihrem Ex-Mann anlege, will ich wissen, ob ich ihn aushorchen muss oder nicht.«
Schweigend nicke ich und sehe nach vorne.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt