[77] -- Rollende Köpfe II

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Die restlichen Geschäftsführer begreifen, was auch ihnen droht und versuchen zunächst mit juristischen Fachausdrücken und Paragraphen ihrem Schicksal zu entgehen; behaupten, es gäbe keine rechtliche Grundlage, ihnen die Führungsposition abzusprechen und sie aus dem Unternehmen zu entfernen.
Aber auch darauf ist Jolene vorbereitet, die jetzt Amber dazuzieht. Diese steht auf und rattert mit nur einem Atemzug sämtliche Paragraphen, Absätze und Ziffern herunter, die die Herren der drei Tochtergesellschaften zum Schweigen bringen.
Für mich war das viel zu schnell und in einem Fachjargon, den ich nicht verstehe. Die Männer hingegen haben es wohl sehr deutlich verstanden.
Ich kann mir nur anhand des Kontextes zusammenreimen, was Amber da gerade von sich gegeben hat: Sie hat ihnen jegliche Vertragsvereinbarungen vorgehalten, die Jolene zu dem berechtigen, was sie hier gerade auch tut.
Mit einem Murren akzeptieren sie es, versuchen aber trotzdem alles, um ihren Hintern zu retten. Dabei kommt auch endlich ans Tageslicht, wie es der Trojaner in deren Netzwerke geschafft hat.
Wobei das Jolene bereits weiß, weil sie das mit ihrem Team herausgefunden hat, aber sie will wissen, wie es in qualifizierten Firmen der Netzwerksicherheit überhaupt dazu kommen konnte.
Dabei stellt sich ein gemeinsamer Nenner heraus. Jedes Unternehmen hatte Besuch von Bilson Junior in Begleitung eines Juristen und eines Netzwerkspezialisten. Um ihre Geschäftsidee und das Angebot besser präsentieren zu können, nutzten sie einen internen Rechner, auf den sie unbemerkt den Trojaner aufspielen konnten.
Ian, Brandon und Cormack überprüfen parallel die Zeitstempel der Installation des Trojaners und gleichen diesen mit dem Datum ab, an denen Unternehmen das Angebot von Bilson erhalten haben.
Sie stimmen überein.

Jolene ist bei ihnen nur ein bisschen gnädiger als bei Goldman. Sie gibt ihnen aber immerhin die Möglichkeit, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden.
Entweder sie akzeptieren eine gewaltige Degradierung - das beinhaltet eine Position ganz unten und lediglich ein Einstiegsgehalt, oder aber sie sitzen genauso auf der Straße wie Goldman.
Mit ihrem Verhalten haben sie ihre Verträge verletzt und sind wohl wissentlich das Risiko eingegangen, dem Unternehmen sowohl finanziell als auch sachlich erheblich zu schaden.
Sie hatten also mehr Glück als Verstand; so Jolenes Worte. Wäre der Trojaner für andere Zwecke eingesetzt worden, hätte das verheerende Auswirkungen auf die gesamte Netzwerkstruktur gehabt und zu extremen finanziellen einbußen geführt. Nicht nur für BNS und das jeweilige Tochterunternehmen, sondern auch für alle Kunden, die an diesem Netz angeschlossen sind. Finanziell hätte sich das sogar auf alle Unternehmen von BNS ausgewirkt.
Anhand eines kleinen Beispiels führt uns Jolene vor Augen, wie schwerwiegend sowas sein kann. Bei den Summen, die sie uns dort präsentiert, verknotet sich mein Magen gewaltig.
Lohnkosten, Gerichtskosten, Versicherungskosten, Beschaffungskosten ... die Liste wirkt endlos und der Schaden wächst in eine beachtliche Millionenhöhe.
Spätestens jetzt wird jeder begreifen, wieso Jolene so hart durchgreift, wie sie es heute tut; und spätestens jetzt weiß auch jeder, wieso sie die betroffenen Geschäftsführer derart an den Pranger stellt.
»Ihr habt fünfzehn Minuten Zeit, euch zu entscheiden«, sagt sie und bedeutet all den anderen, solange eine Pause zu machen.

»Wow«, entkommt es Naddy, die - genauso wie ich - erstmal einen tiefen Atemzug nehmen muss. »Nimm es mir bitte nicht krumm, aber deine Frau ist echt ein Miststück und macht mir heute richtig Angst«, spricht sie, während wir nach draußen gehen, um etwas frische Luft zu schnappen. Denn der Saal ist stickig und mit Angstschweiß geschwängert. »Ich habe zwar nur die Hälfte von Ambers anwaltlichem Geschwafel verstanden, aber das, was ich verstanden habe ... Diese Männer sind mehr als Bankrott, wenn sie Goldman folgen. Sie werden keine Abfindung kriegen, stattdessen müssen sie eine Entschädigung an BNS bezahlen in Höhe ihres dreifachen Jahresgehalts - was vermutlich in dieser Branche noch gnädig ist. Es sind Männer, die vermutlich Frauen und Kinder zuhause haben.«
Seufzend nicke ich.
»Glaubst du sie wäre bei uns genauso skrupellos, wenn uns ein solcher Fehler passiert?«
»Jolene? Nein. Reid? Ja«, antworte ich und schenke ihr ein vorsichtiges Lächeln.
Naddy raunt unzufrieden. »Wir dürfen nie einen Fehler machen.«
»Ich gehe davon aus, diese Erkenntnis ist genau das, was sie mit dieser Versammlung hier bezwecken will.«
»Ist ihr bei mir auf jeden Fall gelungen.« Sie verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. »Ich brauch' was zu trinken. Mein Mund ist vollkommen ausgetrocknet, weil er die ganze Zeit vor Schock offen stand. Soll ich dir etwas mitbringen?«, fragt sie und deutet auf all die Menschen, die sich gerade im Eingangsbereich tummeln. Sie weiß, wie ungerne ich mich jetzt durch diese Masse drücken will. Nicht nur jene der Versammlung halten sich gerade im Eingangsbereich auf, sondern auch alle, die in diesem Gebäude arbeiten und jetzt ihre Pause antreten.
»Ich habe vorhin sogar Tomatensaft entdeckt«, sagt sie und legt ihre Hand auf meinen Bauch. »Da war Reid wohl mal für einen Moment menschlich und hat an ihre schwangere Frau gedacht«, frotzelt sie.
Kurz lache ich deswegen auf und nicke zustimmend.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt