[Siebzehn] - Alle doof

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Jolenes Schritte sind ziemlich stramm, während wir durch den Schulkorridor laufen, weshalb es mir etwas schwer fällt, neben ihr zu bleiben.
Schon von weitem können wir Mrs. Henson sehen, die voller Ungeduld auf uns wartet.
»Wo ist Chester?«, will ich als erstes wissen, als ich ihn nirgends entdecken kann. Panik steigt in mir auf, dass es doch wieder einen Zwischenfall mit Rambo oder gar dessen Brüdern gab und Chester etwas passiert ist.
»Der sitzt seit zwei Stunden auf dem Baseballfeld und weigert sich wieder reinzukommen«, gibt sie mürrisch von sich und winkt uns in ihr Büro herein.
»Haben er und Rambo sich wieder geprügelt?«, frage ich besorgt.
Zu meiner Erleichterung verneint Mrs. Henson dies, verdreht aber genervt die Augen. »Das wäre definitiv einfacher zu klären gewesen«, kommentiert sie den Vorfall, der uns noch völlig unbekannt ist. Erneut bedeutet sie uns, ihr Büro zu betreten; diesmal etwas vehementer, aber sowohl Jolene als auch ich weigern uns, weil wir uns zunächst um unseren Sohn kümmern wollen.
»Ein Lehrer ist bei ihm. Ich finde es wichtig, wenn ich zunächst mit Ihnen sprechen könnte, ohne Chester dabeizuhaben.«
»Na gut«, raunt Jolene und wendet sich mir zu. »Geh' du zu Chester, ich fang' mit ihr schon mal an.«
Schweigend nicke ich, erwidere ihren flüchtigen Kuss und marschiere dann den restlichen Gang entlang, bis ich die Tür zur Hinterseite des Gebäudes durchtrete.

Vorbei an sämtlichen Spielgeräten- und Gerüsten gelange ich auf das kleine, kindgerechte Baseballfeld. Dort sehe ich Chester mit angezogenen Beinen auf dem Boden sitzen. Etwa zwei Meter entfernt einen Mann, der ihn einfach nur schweigend ansieht.
Je näher ich komme, umso deutlicher sehe ich Chesters Miene, die bockig verzogen ist. Seine Unterlippe schmollend nach vorne geschoben und die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen.
»Ches«, rufe ich ihn und erlange sofort seine Aufmerksamkeit.
»Mom!«, erwidert er, steht eilig auf und kommt auf mich zugerannt; Tränen brechen aus seinen Augen. Er wirft sich mir in die Arme und drückt sich fest an mich. Unter starkem Schluchzen versucht er mir zu erklären, was vorgefallen ist, aber ich kann kein Wort verstehen, weshalb ich den Lehrer fragend ansehe, der jetzt erleichtert scheint.
»Ich will nach Hause. Die sind alle voll doof!«, schluchzt Chester jetzt deutlich in meine Schulter hinein.
»Ich versuche seit zwei Stunden ihn dazu zubringen, wieder reinzukommen«, berichtet mir der Lehrer mit milder Stimme.
»Der hat mich rausgeworfen!«, beschwert sich Chester und zeigt auf dem Mann, der vor uns steht.
»Und weshalb?«, will ich von meinem Sohn wissen.
»Ich hab' nichts gemacht!« Trotzig verzieht er das Gesicht und drückt sich fester an mich.
Gequält lächelt mich der Mann an und schüttelt kaum merklich mit dem Kopf. Er berichtet mir, dass Chester den Unterricht so massiv gestört hat und ihm keine andere Möglichkeit blieb, um wieder Ruhe reinzubekommen. Als er ihn zehn Minuten später wieder reinholen wollte, wäre er verschwunden gewesen.
»Ich habe ihn dann hier gefunden und wollte ihn wieder in die Klasse zurückholen, aber er verweigerte es. Seit dem sind wir hier draußen. Er hat komplett dicht gemacht. All meine Versuche, mit ihm zu reden sind an einer Wand abgeprallt.«
»Du bist doof!«, beschimpft Chester den Lehrer und sieht ihn wütend an.
Auch wenn ich Ehrlichkeit schätze, muss ich den Jungen hier doch ermahnen, weshalb er nun auch mir gegenüber bockig reagiert.
Diese Reaktion aber lasse ich unkommentiert und versichere dem Lehrer von hier an zu übernehmen. Dann wende ich mich wieder Chester zu, den ich zunächst dazu überreden muss, mir in die Augen zu sehen.
»Mama ist auch da«, sage ich ihm und erhalte daraufhin seine Aufmerksamkeit. »Sie redet mit Mrs. Henson.«
»Mrs. Henson ist auch doof!«, motzt er weiter.
Ich beuge mich zu ihm und lege meine Lippen an sein Ohr. »Ich gebe dir recht«, flüstere ich ihm zu, »aber das behalten wir jetzt erstmal für uns.«
Und schon liebt er mich wieder.

Bevor wir das Büro der Direktorin erreichen, kann ich Chester dazu überreden, noch einmal seinen Lehrer zu begleiten, um seine Tasche zuholen und dann vor dem Büro auf mich und Jolene zu warten.
Als ich das Zimmer der Dame betrete, berichtet diese ausgiebig über Chesters Taten.
Jolene hingegen sitzt nur schweigend da, das Gesicht aber versteinert und ihr Blick durchdringend.
Es fällt ihr ganz offensichtlich schwer, die Frau nicht zum Schweigen zu bringen. Unruhig trommeln ihre Finger auf der Armlehne ihres Stuhls.
»Es ist wirklich nicht einfach mit ihm«, spricht sie, als ich mich neben Jolene setze und ihre nervöse Hand mit meiner umgreife. »Er ist unkonzentriert, aufmüpfig und unbelehrbar. Die Lehrer wissen einfach nicht mehr, wie sie ihn beschäftigt bekommen sollen.«
»Liegt dann wohl aber eher an einer schlechten Ausbildung der Lehrer, wenn sie es nicht schaffen, einen Fünfjährigen zu beschäftigen«, zischt Jolene zwischen ihren Zähnen hindurch.
»Nein«, wehrt die Mrs. Henson ab. »Chester ist schlicht unterfordert«, begründet sie sein Verhalten. »Die Lehrer können ihn nicht so fordern, wie sie gerne wollen, weil sonst der Vorsprung noch größer wird, als er ohnehin schon ist.«
Jolenes unstete Muskelbewegungen in ihrer Hand stoppen abrupt, ebenso, wie auch mein Blick zur Direktorin schießt.
»Chester ist ein sehr intelligentes Kind«, führt sie weiter aus. »Er ist sehr schnell gelangweilt, weil die anderen Kinder nicht so schnell mitkommen. Er ist mit seinen Aufgaben immer sehr zügig fertig und muss dann warten - aber das kann er nicht. Er fängt dann an zu drängeln, setzt seine Kameraden unter Druck, lenkt sie ab und stört den Unterricht. Und wenn der Lehrer ihn maßregeln möchte, beginnt er zu diskutieren. Ihnen bleibt oft nur die Möglichkeit, ihn des Klassenraums zu verweisen, bis alle soweit sind.«
»Er ist bereits öfters aus dem Zimmer geflogen?«, frage ich verwundert.
»Fast jeden Tag«, seufzt Mrs. Henson.
Das zu hören, überrascht nicht nur mich, sondern auch Jolene. Zumal uns Chester davon nie etwas erzählt hat, wo er sich doch aber gerne beschwert, wenn er ungerecht behandelt wird.
»Chester ist für seine fünf Jahre verbal bereits sehr fortgeschritten«, fährt sie fort. »Seine Worte sind klar und voller Kontext. Sein Sprachpensum ist überdurchschnittlich entwickelt und das führt immer wieder zu Konflikten mit den anderen Kindern. Denn die können seinem Wortschatz oft nicht folgen.«

Sie hört nicht auf, uns zu überraschen.
Natürlich ist uns bewusst, wie clever und wortgewandt Chester für sein Alter ist, aber dass sich das so negativ auf die Schule auswirkt, hätten wir wohl beide nicht erwartet. Zumal wir im privaten Umfeld keinerlei Probleme feststellen konnten. Denn sowohl mit seinen jüngeren Brüdern, als auch Ellie, Samantha und Jay gab es nie Konflikte - zumindest nicht solche.
Aber auch der Kindergarten hat sich nie beschwert - im Gegenteil: Er wurde sogar für seine gute Entwicklung gelobt.
»Aber es gibt auch andere Tage«, unterbricht sie meine Gedanken. »Dann ist er extrem abwesend, malt nur etwas vor sich hin und ist nicht ansprechbar. Weder für die Lehrer, noch für seine Freunde.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, raunt Jolene nun ungeduldig und wirkt alles andere als glücklich mit dieser Bewertung ihres Sohnes.
»Das Pensum der ersten Klasse ist für Chester zu wenig.«
»Also wollen Sie uns sagen, Chester soll eine Klasse überspringen??«
»Vermutlich könnte er sogar direkt zwei überspringen«, antwortet Mrs. Henson mit einem schwachen Lächeln, »aber das wäre nicht Sinn und Zweck des Ganzen. Wahrscheinlich führt das nur zu weiteren Konflikten. Chester ist zwar schnell darin, Dinge zu verstehen, dennoch benötigt auch er die Grundlagen. Die würden ihm aber fehlen, würde er eine oder zwei Klassen überspringen. Dann könnte er sogar überfordert sein.«
Jolene schnaubt deutlich, um der Direktorin zu verdeutlichen, endlich auf den Punkt zu kommen.
»Besser für ihn wäre eine Klasse mit Mitschülern, die seinem Niveau entsprechen. Gleichaltrige, die so schnell lernen, wie er.«
»Sie meinen eine Schule für Hochbegabte?«, frage ich entsetzt.
»Nicht unbedingt«, verneint sie und schüttelt den Kopf. »Das würde ihn vermutlich zu sehr unter Druck setzen. Viel mehr dachte ich an eine Privatschule.« Mit diesem Wort schiebt sie uns einen Flyer über den Tisch entgegen. »Sie orientieren sich nach den persönlichen Stärken der Kinder, gestalten den Unterricht entsprechend und bieten viele Aktivitäten. Unter anderem Baseball und Zeichnen. Etwas, an dem Chester große Freude hat. Die Kinder werden in die Unterrichtsgestaltung mit eingebunden und dürfen die Themen bestimmen, über die sie etwas lernen wollen.«
Mit skeptisch verzogener Augenbraue greift Jolene nach dem Flyer und hält ihn so, dass auch ich mitlesen kann.
»Diese Schule«, beginnt Mrs. Henson wieder und deutet dabei auf den Prospekt, »geht bis zur Highschool und bereitet die Kinder sogar auf das College vor. Sie werden nicht nur gefordert, sondern auch gefördert. Jeder in seinem Interessengebiet und seiner Begabung.«

Jolene sieht mich einen Moment schweigend an. Sie lässt sich die Worte der Schulleiterin wirklich durch den Kopf gehen und scheint sie sehr ernst zu nehmen. »Ich kann jetzt schon die Belehrung meiner Mutter hören«, verdreht sie genervt die Augen und legt den Flyer auf den Tisch zurück.
Uns wird gerade die Privatschule empfohlen, die uns auch Milly nahegelegt hat. Vehement hat sie auf Jolene eingeredet, ihren Sohn auf diese Schule zu schicken, und nicht auf eine öffentliche. Vermutlich war es der abfällige Ton, weshalb sich Jolene dazu entschieden hat, das Gegenteil von Milly zu machen; oder, weil Jolene grundsätzlich das Gegenteil macht.
»Was bedeutet das für Chester?«, fragt sie dann an die Direktorin gewandt.
»Dass er an dieser Schule besser aufgehoben wäre.«
Eine Aussage, die Jolene so gar nicht gefällt. Ihre gesamte Körperhaltung wird wieder härter. »Das Schuljahr hat gerade erst angefangen, und er soll jetzt schon die Schule wechseln und hier rausgerissen werden??«
»Chester ist sehr clever und Kontaktfreudig. Er wird mit Sicherheit keine Probleme haben, an der neuen Schule Freunde zu finden. Glauben Sie mir, er wird sich dort wohler fühlen. Er ist sehr fantasievoll - dort könnte er das voll und ganz ausleben, ohne in Defizite oder Konflikte zu geraten«, beschwichtigt Mrs. Henson sofort.
»Gut«, zischt Jolene und lehnt sich nach vorne. »Und was bedeutet das für Chester?«, wiederholt sie ihre Frage. »Jetzt?«
»Sehen Sie sich die Schule einmal mit ihm an. Sie wird ihm gefallen«, umgeht sie die Frage meiner Frau und ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee war. Jolene kann es nicht leiden, wenn man auf ihre Fragen nicht eingeht, oder sie gar ignoriert.
»Also soll er so schnell wie möglich hier weg?« Die innere Unruhe kehrt in sie zurück, weshalb ich erneut nach ihrer Hand greife. Ich weiß, dass sie sich jetzt noch beherrscht.
»Ich kann für Sie da anrufen und einen Termin vereinbaren. Ich werde ihnen auch eine Mail zukommen lassen, um sie auf Ihren Besuch vorzubereiten.«
»Danke«, knurrt Jolene und steht auf, »aber ich kann selbst anrufen. Bin schon groß und weiß, wie man Nummern wählt.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und verlässt das Büro.
Ich greife nach dem Flyer und folge ihr umgehend.

Draußen sitzt Chester artig auf einem der Stühle und sieht uns mit seinen großen Kulleraugen entgegen.
»Krieg' ich jetzt Ärger?«, will er unschuldig wissen.
»Nein«, antworten Jolene und ich gleichzeitig und bedeuten ihm, mit uns zu kommen.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt