[Sieben] - Pausenhofprügelei

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Zielstrebig laufe ich durch den großen, breiten Korridor der Schule. Zeit, mir die von Kinderhänden bemalten Wände anzusehen habe ich nicht. Die bunten und fröhlichen Farben ziehen einfach an mir vorbei.
In meinem Fokus das Büro der Direktorin.
Im Vorzimmer entdecke ich dann Chester auf einem der Stühle sitzen, mit den Beinen schaukelnd, den Kopf gesenkt und die Lippen zu einem Schmollmund gezogen.
»Ches«, spreche ich ihn an und gehe vor ihm auf die Knie. »Hast du mit einem Dornenbusch gekämpft?«, amüsiere ich mich zunächst über die Kratzer in seinem Gesicht.
Als er aber ernst bleibt, anfängt zu weinen und sich in meine Arme wirft, weiß ich, dass die Kratzer nicht da sind, weil er abenteuerlustig gewesen ist.
»Was ist passiert?«, frage ich ihn deshalb und versuche, ihn zu beruhigen.
»Die sind alle doof! Ich habe gar nichts gemacht!«, beschwert er sich und schnieft seine Tränen wieder weg.
Dann aber entdecke ich noch mehr: Blaue Flecken an seinem Hals, weshalb ich sein Gesicht mit einer Hand umgreife und es in alle Richtungen drehe.
»Was ist passiert?«, will ich dann nochmal wissen und lege mehr Betonung in meine Stimme. Ich ziehe Chester vom Stuhl runter, damit er steht und umgreife den Bund seines Shirts. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter, als ich auch an seinem Oberkörper blaue Flecken entdecke. »Hast du Schmerzen??« Sanft taste ich all die Blutergüsse ab.
»Nein«, murmelt er.

»Mrs. Reid«, höre ich die Stimme der Direktorin. »Bitte treten Sie ein.«
»Ich will erst wissen, was hier passiert ist«, fauche ich sie an.
»Das erkläre ich Ihnen gleich.«
»Mit Sicherheit tun Sie das, aber erst will ich die Geschichte von meinem Sohn hören!«
»Die werde ich Ihnen erz...«
»Nein!«, unterbreche ich sie und drehe mich ihr nun zu. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich von Ihnen etwas ganz anderes höre, als von ihm!« Mit einer Handbewegung gebe ich ihr zu verstehen, mir jetzt Zeit mit Chester zu geben und wende mich diesem wieder zu. »Was ist passiert?«, frage ich zum wiederholten Mal.
Chester nimmt einen tiefen, aber auch zitternden Atemzug. »Ich hab' mit Rambo gespielt«, beginnt er und mir schwant schon, was ich gleich hören werde. Alleine dieser Name gibt mir ein ungutes Gefühl. »Dann wollte Dina mitspielen, aber Rambo wollte das nicht, weil sie ein Mädchen ist. Er hat sie dann mit ganz bösen Worten beschimpft. Mom! Sowas sagt man nicht zu einem Mädchen!«, gibt er trotzig von sich. »Ich wollte Dina nur beschützen!«
Besänftigend streichle ich ihm durchs Haar und ermutige ihn so, weiter zu erzählen.
»Dann hat er mich geboxt.« Dabei legt er seine Hände auf seinen Bauch, um mir zu zeigen, wo er geboxt wurde. »Und dann hat er mich zu Boden geschubst und mich getreten.« Jetzt hebt er sein Shirt wieder hoch und zeigt mir, wo er getreten wurde.
Wut kommt in mir auf, aber ich bleibe ruhig, um Chester weiter Mut zu geben.
»Und dann hat er sich auf mich gesetzt, mich gekratzt, geboxt und gewürgt.« Bei der letzte Äußerung legt er sich selbst die Hand um seinen Hals. »Die glauben mir nicht! Die sagen, ich wäre böse gewesen!«
Seine grünen Augen funkeln erneut, weshalb ich ihn direkt wieder in meine Arme schließe und ihm verspreche, das zu klären.

Wütend erhebe ich mich, als er sich wieder beruhigt hat, nehme ihn an der Hand und betrete nun das Büro der Direktorin, die all die Zeit in der Tür gestanden und auf mich gewartet hat.
»Die Geschichte ist so nicht ganz richtig«, lässt sie mich wissen.
»Wie ist sie denn dann richtig?«, frage ich sie bissig, ziehe Chester erneut das Shirt nach oben, um ihr all die Blutergüsse zu zeigen. »Ich hoffe, sie können mir diese Verletzungen wirklich plausibel erklären!«
»Der andere Junge ist so schlimm zugerichtet, dass er ins Krankenhaus musste«, geht sie zunächst in die Verteidigung. »Er hat eine gebrochene Nase.«
Auffordernd sehe ich sie an, um endlich ihre Version zu hören.
»Rambo hat mit Dina gespielt. Chester gefiel es nicht, weshalb er Rambo angegriffen hat. Dabei hat er ihm zwischen die Beine getreten und dann ins Gesicht geschlagen. Wir mussten ihn von Rambo runterholen.«
»Das stimmt gar nicht!«, wehrt sich nun Chester.
»Wenn mein Sohn doch die Oberhand hatte, wie erklären Sie dann seine Verletzungen?« Erneut deute ich auf Chester und zeige ihr nochmals seinen Hals.
»Rambo musste sich wehren«, rechtfertigt sie.
»Mit Würgen??« Darauf scheint sie aber keine Antwort zu haben. »Und welche Geschichte bestätigt diese Dina?«
»Sie würde gewiss bestätigen, dass Chester angefangen hat.«
»Würde? Heißt also, ihr habt sie gar nicht gefragt??«
»Es gab keinen Anlass dazu. Zwei meiner Kollegen haben Chester auf Rambo gesehen und ihn runtergezogen. Es war eindeutig, was passiert ist.«
Mir entkommt ein abfälliges Schnauben und ungläubiges, kurzes Lachen. »Holen Sie Dina her, ich will ihre Version hören.«
»Ich kann dieses Kind jetzt nicht aus ihrem Unterricht holen.«
»Nicht? Verpasst sie dann, wie man Laub mit glitzer bestäubt?«, gebe ich zynisch von mir.
»Dina ist nicht im Fokus dieser Sache, sondern Chester, und über ihn müssen wir uns ernsthaft unterhalten. Es ist nicht seine erste Auffälligkeit. Lehrer beschweren sich sehr oft über ihn, weil er vorwitzig und frech ist.«
»Und damit kommt ihr nicht zurecht?« Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue nach oben.
»Er ignoriert Anweisungen, ist unkonzentriert, stört den Unterricht und führt Diskussionen.«
Mein Blick senkt sich zu Chester, der entschuldigend mit den Schultern zuckt. »Ich kann nichts dafür wenn die alle so doof sind«, verteidigt er sich und verschränkt bockig seine Arme, als ich ihm deshalb einen missbilligenden Blick zuwerfe.
»Dennoch«, richte ich mein Wort wieder an Mrs. Henson, »ist das kein Grund ihm pauschal die Schuld für eine Prügelei zu geben. Ich will Dinas Seite hören.«
»Und ich will mit Ihnen über Ihren Sohn reden«, verweigert sie weiterhin meine Bitte, weshalb ich jetzt richtig sauer werde.
»Entweder, Dina steht gleich hier und berichtet, wie es war, oder meine Frau steht gleich hier. Und glauben Sie mir, das wollen Sie nicht!«, drohe ich.
»Ja«, stimmt Chester zu. »Mom ist hier nämlich der gute Cop!«
Ich kann definitiv nicht bestreiten, dass Chester vorwitzig und neunmalklug ist. Obwohl ich innerlich seufze, schenke ich ihm erneut einen mahnenden Blick.
»Der Unterricht läuft gerade erst zwei Wochen«, unterbreche ich Mrs. Henson direkt, als sie einen tiefen Atemzug nimmt, um erneut zu argumentieren, »und Sie wollen mir hier erzählen, bereits jetzt schon mit einem fünfjährigen überfordert zu sein?«
»Ihr Sohn ist nicht das einzige Kind auf dieser Schule!«, wehrt sie sich.
»Nein, aber wie kann ein einziges Kind eine ganze Lehrerschaft in zwei Wochen ans Ende ihrer Kompetenzen treiben?« Schweigend funkelt sie mich verbittert an. »Und wieso haben Sie uns nicht schon vorher kontaktiert, wenn er Ihnen zu aufmüpfig ist?«
»Kinder brauchen eine Eingewöhnungszeit, die wollten wir ihm geben«, rechtfertigt sie.
»Bringen Sie Dina her«, bestehe ich weiterhin drauf und gebe ihr deutlich zu verstehen, mich dahingehend nicht abwimmeln zu lassen.

Erst dann lenkt sie schließlich ein, nimmt das Telefon in die Hand und ruft ihren Kollegen an, der mit Dina zu ihr ins Büro kommen soll.
Während wir warten, versucht sie mir einzureden, dass Kinder nicht immer die Wahrheit sagen, wenn sie direkt konfrontiert werden. Vermutlich wird Dina also jetzt Chesters Version bestätigen, weshalb sich Mrs. Henson direkt Rechtfertigungen zusammenreimt und mir gleich erzählen wird, dass Dina das nur sagt, weil Chester hier steht.
Dafür schenke ich ihr nur einen müden, skeptischen Blick.

Letztlich bestätigt Dina tatsächlich Chesters Version und kann sie sogar so detailliert wiedergeben, dass auch keine Ausrede der Direktorin mehr glaubhaft ist. Schließlich ergibt sie sich der Tatsache und will Chester wieder zum Unterricht schicken.
Aber das verweigere nun ich und deute nochmals auf all seine Verletzungen; auch ich werde mit ihm zunächst ins Krankenhaus fahren und ihn durchchecken lassen. Zugleich mache ich ihr den Vorwurf, dass mein Sohn mit diesen Blutergüssen und Würgemalen ohne Untersuchung hier sitzen gelassen wurde und wünsche ihr, dass nichts Ernsthaftes ist.
Denn tatsächlich bin ich darüber so sauer, dass ich am liebsten Amber anrufen und sie auf die Direktorin ansetzen möchte.
Aber ich halte mich noch zurück und überlasse das weitere Verfahren Jolene.
Die Bitte nach einem Gespräch wegen Chester bügle ich mit einem bissigen »Wir melden uns, wenn wir Termine frei haben« ab und verlasse mit dem Jungen das Schulgebäude.

»Mom?«, wünscht Chester meine Aufmerksamkeit.
Ich bleibe stehen und hebe ihn in meine Arme. Sofort legt er seine um meinen Hals und schmiegt sich an mich.
»Bekomme ich jetzt Ärger und darf nie wieder zur Schule?«, fragt er traurig.
»Nein«, schüttle ich den Kopf und streichle ihn über den Rücken. »Du kriegst kein Ärger und in die Schule darfst du auch wieder gehen«, verspreche ich ihm und erkläre, dass wir jetzt erstmal ins Krankenhaus fahren und ein Doktor gucken soll, ob es ihm gut geht.
»Mir tut nichts weh«, versichert er mir nochmals, als er ins Auto steigt und sich anschnallt.
Trotzdem will ich Gewissheit. Denn gerade Würgen und Tritte in den Bauch, die kurz danach als Blutergüsse sichtbar werden, halte ich nicht für harmlos.
Und nur, weil er keine Schmerzen spürt, heißt es nicht, dass nichts verletzt ist.

Bevor ich losfahre, versuche ich nochmals Jolene anzurufen, aber sie geht immer noch nicht ans Telefon. Auch nicht an jenes in ihrem Büro.
Manchmal macht mich diese Frau echt wahnsinnig, was ihre mieserable Erreichbarkeit angeht. Seufzend lege ich wieder auf und tippe ihr nun eine Nachricht, in der ich ihr knapp erkläre, was passiert ist und ich nun auf dem Weg ins Krankenhaus bin, um Chester untersuchen zu lassen.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt