[Zweiunddreißig] - Herrin der Ringe

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Dank eines weiteren Hurrikans ist es draußen so ungemütlich, dass wir das Haus nicht verlassen und noch immer am Esstisch sitzen.
Während ich gemeinsam mit meiner Mutter die Immobilienanzeigen auf der Suche nach einem schönen Häuschen in unserer Nähe durchforste, sitzt Chester auf Jolenes Schoß und lässt sich von ihr das Programmieren näher bringen.
Christian musste trotz des Wetters nach draußen zum Flughafen. Dieser hat aufgrund des Sturms sämtliche Flüge gestrichen, weshalb das die ideale Möglichkeit ist, auch die Flieger technisch zu überprüfen, die eigentlich hätten fliegen sollen.

»Ich empfehle die Maklerin, die für uns dieses Häuschen hier gefunden hat«, sagt Jolene, als meine Mutter und ich einstimmig unzufrieden murren. Denn entweder die Gegebenheiten sind für den Rollstuhl meiner Mutter ungeeignet, oder es ist zu klein, um sich mit dem Gefährt darin zu bewegen, oder gar zu teuer. Für manche Hütten - anders kann man diese Buden nicht bezeichnen - verlangen sie teilweise wirklich Wucherpreise; selbst für Miami-Verhältnisse.
Das Seufzen meiner Mutter interpretiere ich als Zustimmung, weshalb ich Jolene zunicke und diese direkt ihr Handy zückt, um die Maklerin zu kontaktieren.
»Wir brauchen mindestens drei Zimmer«, gibt meine Mutter an. »Besser aber vier, falls Philipp doch noch einen Job bekommt«, ergänzt sie.
»Hat er noch nichts gefunden?«, fragt Jolene verwundert nach.
»Nein, er bekommt nur Absagen.« Mit einem vielsagenden Blick lächelt sie Jolene entgegen, die an einigen Absagen nämlich nicht ganz unschuldig ist.
Diese schürzt kurz ihre Lippen, greift nach meinem Handy und tippt darin herum.
»Er kann seine Sachen auch packen«, sagt sie, gibt mir mein Handy zurück und widmet sich nun dem Telefonat, das sie mit der Maklerin führen will.
Skeptisch verziehe ich meine Augenbraue und sehe nach, was sie da getan hat. Überrascht weiten sich meine Augen, als ich sehe, dass sie meinem Bruder geschrieben hat, ihm einen Job in einer ihrer Firmen zu geben. Ein Unternehmen, das sich auf die Programmierung von Assistenzsystemen für die Automobilbranche spezialisiert hat.
»Er sagt, dort hätte er sich bereits beworben und eine Absage bekommen«, gebe ich seine Antwort auf ihren Text wieder.
»Das werde ich am Montag ändern«, sichert Jolene zu, ohne ihren Blick von ihrem Handy abzuwenden.
Ihren Wortlaut gebe ich an meinen Bruder weiter, und wenn ich seine freudige Antwort richtig deute, scheint das genau sein Ding zu sein.
Meine Mutter fängt an zu lachen, als sie seine Antwort liest. »Der packt bestimmt jetzt alles sofort zusammen und besorgt sich ein Visum und ein Flugticket.«
Als mich Jolene ansieht, forme ich meine Lippen zu einem 'Dankeschön', welches sie mit einem lieblichen Lächeln erwidert, während sie darauf wartet, dass die Maklerin ans Telefon geht.
Mir ist bewusst, dass sie das nur getan hat, um mich glücklich zu machen; damit ich meine ganze Familie bei mir habe.
Deshalb kann ich mich nicht zurückhalten, stehe auf, gehe um den Tisch herum zu ihr und umgreife ihr Gesicht mit beiden Händen, drehe es zu mir und schenke ihr einen innigen Kuss.
Als ich mich von ihr löse und sie anlächle, zieht sie mich zu sich zurück, um sich einen weiteren Kuss zu stehlen, den sie dann aber abbrechen muss, weil sich die Maklerin endlich meldet.

Im Anschluss verzieht sich Jolene in die Garage zu ihrem Pontiac. Meine Mutter und ich hingegen, beschäftigen uns mit Chester und malen gemeinsam ein paar Bilder.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich wirklich davon ausgehen, er ist dein leibliches Kind«, schmunzelt meine Mutter, während sie Chester beim Malen beobachtet.
»Sein Vater ist auch ein kreativer Mensch, Mum«, erinnere ich sie daran. »All die Kunstwerke auf Jolenes Körper sind seine.«
»Ich weiß«, nickt sie und sieht mich an. »Ich meine auch nicht seine künstlerische Ader.« Mit ihrem Finger deutet sie auf ihre Zungenspitze, dann zu Chester, der seine in seiner Konzentration leicht herausstreckt. »Das tust du auch, wenn du kreativ bist.«
Ich schmunzle nun meinerseits, weil ich das nicht zum ersten Mal höre.
Tatsächlich macht es mich stolz, denn dadurch ist er mir so eng verbunden, wie ein leibliches Kind.

»Was willst du eigentlich mal werden, wenn du groß bist, Ches?«, fragt meine Mutter dann.
Chester beendet das Malen und sieht nachdenklich nach oben. »Reich«, antwortet er dann und malt weiter.
»Reich?«, hakt sie irritiert nach und sieht mich dann an. Aber auch ich habe keine Erklärung dafür und zucke mit den Schultern.
»Ja«, nickt Chester und sieht sie wieder an. »Dann kann ich ganz viele Süßigkeiten kaufen und den armen Kindern in Afrika schenken. Mom sagt nämlich immer, wenn ich etwas nicht essen möchte, die wären froh, wenn sie etwas zu essen hätten.«
»Und du glaubst Süßigkeiten helfen ihnen?«, schmunzelt meine Mutter.
»Ja. Süßigkeiten sind lecker!«, begründet er. »Jeder mag Süßigkeiten.«
»Und wie willst du reich werden?«, fragt sie dann genauer nach.
Nachdenklich legt sich Chester den Stift ans Kinn und sieht wieder nach oben. Dann zuckt er mit der Schulter. »Darüber muss ich noch nachdenken«, stellt er dann für sich fest und widmet sich wieder seinem Bild.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt