[Zweiundneunzig] - Es geht weiter

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Die Tür zu meinem Krankenzimmer wird geöffnet, nachdem es kurz geklopft hat. Es ist Naddy, die ihren roten Lockenkopf vorsichtig durch den Türspalt schiebt und die Lage überprüft. Als sie sieht, dass ich wach bin und bereits Besuch habe, kommt sie gänzlich herein; gefolgt von ihrem Mann und ihrer Tochter, von Johnny und Jessica mit ihren zwei Söhnen, von Dennis mit Jay und Ellie, und auch von Danielle mit ihrem jüngsten Sohn.
Mein Zimmer ist voll und bietet kaum Platz für alle, aber es rührt mich, wie sehr sich jeder von ihnen um mich sorgt.
Die Stimmung hebt sich nur wenig, weil keiner so recht weiß, wie er mit mir umgehen soll, was er sagen darf, oder was mich wieder nur zu Boden reißt.
Selbst Naddy, die sonst auch in weniger schönen Situationen aufheiternde Worte findet, ist schweigsam und vorsichtig. Sie nimmt mich wortlos in den Arm und drückt mich fest; dabei schnieft sie und hat offensichtlich ebenfalls Mühe, sich im Zaum zu halten, um mich nicht damit zu beeinflussen.
In all deren Gesichtern erkenne ich, wie auch sie die schlechte Nachricht zu verdauen haben, mir aber trotzdem zu gerne aufmunternde und zuversichtliche Worte zusprechen möchten.
Aber ihnen ist auch bewusst, dass ein »Alles wird gut« hier nicht wirklich hilfreich ist.

Selbst wenn die Wunden heilen, es wird nie gut sein, ohne Morgan weiterzuleben und sich immer wieder zu fragen, wie es mit ihr gewesen wäre. Sie wird in vielen Situationen fehlen, in denen sie oft ihren Abdruck hinterlassen hat.
Bevor mich diese Gedanken aber wieder niederschlagen, atme ich tief durch und versuche, mich aufzusetzen, weil es langsam unbequem wird und mir der Rücken schmerzt.
Christian greift mir sofort unter die Arme und hilft mir dabei.
Als ich einigermaßen bequem sitze, wandert mein Blick durch den Raum zu jedem einzelnen. Ich kann sehen, wie mich am liebsten jeder fragen möchte, wie es mir geht, es sich aber keiner traut. Wie soll es mir auch schon gehen, nachdem ich über die Nachrichten erfahren habe, dass ein Mensch, den ich liebe, Opfer einer Katastrophe geworden ist?
Da beneide ich ein wenig die Kinder, die es anscheinend viel einfacher haben, sich abzulenken. Sie sitzen alle an dem Tisch in meinem Zimmer und malen. Chester wirkt dabei unbekümmert und unterhält sich mit Jay, Eugene und Sam, oder hilft Ellie und Liam beim Malen.
Wir Erwachsenen aber neigen viel zu sehr dazu, über Dinge nachzudenken und Situationen im Kopf immer wieder durchzugehen, um Antworten zu finden.
Kinder sind da unbekümmerter. Sie leben im Hier und Jetzt, und nicht im »Was wäre wenn?«.

Das Jonglieren mit Themen, die uns alle nicht an Morgan denken lassen, wird unterbrochen, als sich meine Zimmertür erneut öffnet und Winnie mit einem vorsichtigen Lächeln den Raum betritt; gekleidet in ihrem ärztlichen Kittel.
Ellie lässt sofort alles liegen, um ihre Mutter zu begrüßen. Diese erwidert das zwar, erklärt ihr aber auch, gerade zu arbeiten und bittet Ellie darum, wieder zu den anderen zu gehen.
Dann richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf uns alle und schickt schließlich jeden aus dem Raum, weil sie mich untersuchen muss. Nur meiner Mutter genehmigt sie, dabei zu bleiben, weil ich sie darum bitte.
»Wieso bist du hier?«, frage ich Winnie verwundert, während sie mir in den Zeigefinger piekst, um eine Probe für den Blutzuckertest zu nehmen.
Denn ich bin mir ganz sicher, nicht auf der Station zu liegen, auf der Winnie eigentlich arbeitet. Sie will eines Tages Kinderärztin im Fachgebiet der Chirurgie werden und ist deshalb im Zuge ihres Studiums als Assistenzärztin auf der Pädiatrie tätig. Und auf der Pädiatrie befinde ich mich ganz sicher nicht.
Kurz schmunzelt sie schwach und konzentriert sich auf ihre Arbeit, ehe sie mir antwortet. Unter ihren Augen liegt ein Schatten und ich kann die Rötung ihrer unteren Lider erkennen.
Sie hat geweint und leidet unter der Nachricht vermutlich ähnlich wie ich. Sie und Morgan hatten ebenfalls eine besondere Beziehung zueinander. Morgan ging mit Winnie ganz anders um, als mit uns anderen. Ihr gegenüber war sie nie sehr anzüglich oder frech; viel mehr behandelte sie weitaus respektvoller und war auch für Winnie immer die erste Anlaufstelle, wenn diese etwas auf dem Herzen hatte.
Wenn ich das Verhältnis der beiden beschreiben müsste, würde ich es als schwesterlich bezeichnen - etwas darüber hinaus, aber keineswegs ähnlich dem Verhältnis, wie ich es zu ihr habe, oder Jolene.
Für Winnie war Morgan eine wichtige Person und natürlich geht das auch nicht einfach an ihr vorbei. Aber ihre Art und auch ihr Beruf erlauben es ihr nicht, so zu trauern, wie sie es vielleicht gerne tun würde. Winnie beherrscht es, ihre Gefühle zu kontrollieren.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt