[Vierunddreißig] - Blanke Nerven

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Am nächsten Morgen fühle ich mich unglaublich gerädert. Gewiss, weil ich wieder so emotional gewesen bin und die Gefühle zwischen mir und Jolene hin und her geschwappt sind.
Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, als ich in den Schlaf gefunden habe, aber die Liebe, die wir einander ausgetauscht haben, fühlte sich unendlich lang an. Geduldig und ausdauernd streichelte, kraulte und küsste mich Jolene, bis ich eingeschlafen bin.

Der Platz neben mir ist leer und kalt, weshalb sie wohl schon längere Zeit nicht mehr im Bett liegt, also werfe ich einen Blick auf die Uhr.
Es ist erst halb neun am Morgen. Viel geschlafen hat sie demnach wohl nicht. Immerhin war es fast zwei in der Nacht, als sie zu mir ins Bett kam, und dann unsere nicht endende Zweisamkeit ...
Mühsam erhebe ich mich und greife nach der dreiviertel Stoffhose, die auf dem Armlehnenstuhl liegt, der uns als Klamottenablage dient. Nur ein frisches Oberteil hole ich aus dem Schrank, ziehe es mir über und gehe nach unten.
Die Dusche werde ich gleich aufsuchen, aber zuerst muss ich etwas trinken, weil meine Kehle vom ganzen Schluchzen vollkommen ausgetrocknet ist.

Am Esstisch finde ich lediglich meine Mutter vor, die in der Zeitung blättert, die uns der Zeitungsjunge jeden Morgen auf die Veranda wirft.
Wobei das nicht immer so gewesen ist. Anfangs fanden wir diese oft mitten in der Hofeinfahrt oder auf dem Rasen. Bis Jolene eines Morgens auf den Jungen gewartet hat.
Mit einem kräftigen und schrillen Pfiff, bei dem selbst ich zusammengezuckt bin, hat sie ihn wieder zurück geordert und ihm erklärt, dass unsere Einfahrt nicht aus Lava besteht und er diese betreten kann, ohne zu verbrennen. Und auch, dass ihr dreijähriger Sohn einen Football weiter werfen kann, als er die Zeitung.
Seit dem befährt der jugendliche Junge wenigstens die Hälfte unserer Einfahrt, damit er die Zeitung bis zur Veranda geworfen bekommt.

»Warst du schon auf der Toilette?«, fragt mich meine Mutter, weshalb ich sie irritiert blinzelnd ansehe.
»Nein?!«, antworte ich verwirrt und hebe meine Teetasse nach oben, um ihr zu zeigen, erst etwas trinken zu wollen.
»Gut. Bevor du etwas trinkst ...«, spricht sie und hält mir eine kleine Packung entgegen. »Deine Frau ist mir mal wieder einen Schritt voraus. Es ist wirklich unmöglich, ihr einmal zuvorzukommen.« Auffordernd wedelt sie mit der Pappschachtel.
»Zuvorkommen?«, frage ich verwundert und nehme die Packung an mich. Ein Schwangerschaftstest. Als ich begreife, was sie mir sagen will, muss ich schmunzeln. »Der Ketchup.«
»Der Ketchup«, stimmt sie nickend, aber auch lächelnd zu. »Und deine Müdigkeit, deine Übelkeit, deine äußerst entspannte Art in Situationen, die dich sonst aufgeregt haben, und die menstruellen Beschwerden«, zählt sie jene Dinge auf, die ihr aufgefallen sind und mich seit ein paar Tagen beherrschen. »Ganz zu schweigen von deiner ausgeprägten Emotionalität und der Abstinenz von Kaffee.«
»Und die gewachsenen, schmerzenden Brüste«, füge ich murmelnd hinzu, weshalb ich einen fragenden Blick meiner Mutter erhalte. Erst da bemerke ich, diesen Gedanken laut ausgesprochen zu haben. »Das ... uhm ... haben wir letzte Nacht festgestellt«, erkläre ich unter einem deutlichen Räuspern. »Das war der Anlass für Jolene, mir einen Schwangerschaftstest zu kaufen.« Etwas peinlich berührt lächle ich sie an.
Mit einer deutlichen Geste gebe ich zu verstehen, jetzt diesen Test zu machen und verschwinde mit diesem im Badezimmer.

Meine Hände zittern aufgeregt, weshalb ich zunächst zu unfähig bin, die Packung zu öffnen. Aber auch meine Atmung ist wie eingefroren und fühlt sich schwer an. Mein Herz rast so schnell, dass es mir in der Brust fast schon weh tut.
Noch eine ganze Weile stehe ich einfach im Bad und starre das Teil in meinen Händen an, ehe ich mich traue, mich auf die Schüssel zu setzen und den Test anzuwenden; aber zunächst muss ich das Zittern loswerden, ehe es in einem absoluten Malheur endet.

Während ich mir im Anschluss die Hände wasche, starre ich auf das kleine Display, als würde dort in wenigen Sekunden die Antwort auftauchen, die uns vom Hibbeln erlöst.
Weil ich das Ergebnis aber nicht ohne Jolene sehen will, lasse ich den Test dort liegen und verlasse das Badezimmer, um mir endlich meinen Tee zu gönnen.
»Wo sind eigentlich alle?«, frage ich schließlich und lehne mich mit dem Rücken gegen die Anrichte, während ich die ersten, vorsichtigen Schlücke nehme.
»In der Garage. Sie helfen Jolene beim Zusammenbauen des Motors. Der Ring ist aber immer noch nicht aufgetaucht.«
»Wenn der Test wirklich positiv ist und ich schwanger bin, erklärt das alles«, schmunzle ich und erkläre auf Nachfrage, dass Jolene bei meiner letzten Schwangerschaft auch schon ungewohnt schusselig war und ständig irgendwelche Dinge verlegt hat: Portmonee, Autoschlüssel, Sonnenbrille ... einfach alles.
Daraufhin muss meine Mutter erheitert lachen. »Das ist gut, denn offensichtlich geht sie mit dir schwanger. Das zeigt, wie stark das Band zwischen euch beiden ist.«
Schmunzelnd nicke ich bloß und verberge, wie stark das Kribbeln ist, welches durch diese Worte in mir ausgelöst wird. Dann stoße mich von der Anrichte ab, gebe meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und gehe nach draußen, um meine Frau für den wichtigen Moment abzuholen.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt