[Sechzig] - Gedankenchaos II

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Jolene kommt mir bereits entgegen, als sie erkennt, dass ich das Gespräch mit Naddy beendet habe.
Vor mir bleibt sie stehen und sieht mich abwartend an. Ich kann an ihrem Ausdruck nicht so ganz erkennen, welche Gefühle sie gerade hat.

»Es ist etwas passiert, das nicht hätte passieren dürfen«, beende ich die unangenehme Stille zwischen uns und sehe vorsichtig zu ihr auf. Mein Herz ist unschlüssig, ob es schneller schlagen, oder einfach stehen bleiben soll, weil ihr Ausdruck unverändert emotionslos bleibt. Sie wartet und fordert mit ihrem Blick stillschweigend dazu auf, ihr zu erzählen, was passiert ist.
»Mit Morgan«, füge ich leise hinzu und senke meinen Blick. Auch wenn Naddy das Ganze als harmlos abtut, beschäftigt es mich einfach viel zu sehr. Es fühlt sich so falsch an, weil es sich so echt angefühlt hat; und eben die Tatsache, weil es mir auch noch sehr gefallen hat. Mein Gewissen quält mich unaufhörlich.
Jolene legt ihre Hand auf meine Wange und fordert so von mir, sie wieder anzusehen. Es fällt mir schwer, aber ich gebe dem nach. Dennoch rinnen bereits die ersten Tränen über meine Wange.
Ein liebliches Schmunzeln liegt auf ihren Lippen, während sie mit dem Daumen sanft die Tränen wegwischt.
»Meinst du etwa den Kuss heute morgen? Ihr küsst euch doch öfters und du weißt, das stört mich nicht. Wieso also beschäftigt es dich plötzlich so?«
Seufzend schüttle ich den Kopf und will meinen Blick wieder senken, aber sie erlaubt es mir nicht.
»Ich hatte Sex mit ihr.«
Jolenes Ausdruck versteinert wieder und ihre rechte Augenbraue hebt sich ungläubig, aber auch skeptisch. »Wann?«
»Heute Nacht.«
Noch einen Moment bleibt ihr Blick unverändert, aber dann lacht sie plötzlich los und zieht mich in ihre Arme.
Auf der einen Seite bin ich erleichtert, weil sie so reagiert, auf der anderen weiß ich nicht, warum sie das so lustig findet, denn in meinen Augen ist es das nach wie vor nicht.
»Und das macht dich so fertig, dass du nachts um drei die halbe Welt verrückt machst?«, fragt sie amüsiert und drückt mir ihre Lippen ins Haar.
Ich bin ein wenig erbost über ihre Reaktion, weil ich mich auch von ihr nicht ernstgenommen fühle.
»Ja!«, gebe ich deshalb etwas harsch von mir und drücke sie von mir weg.
Ihre Lippen verziehen sich zu einem frechen Schmunzeln. »Hat es dir denn wenigstens gefallen?«
»Hat es«, gestehe ich. »Du warst auch dabei.«
»Das wird ja immer besser.« Ihr Schmunzeln wird zu einem Grinsen.
»Jolene!«, schimpfe ich. »Kannst wenigstens du mich ernst nehmen, bitte??«
»Es war doch nur ein Traum, Babe.«
»Ein Traum, der sich verdammt echt angefühlt hat.«
Jetzt verschwindet ihr amüsierter Ausdruck. »Was genau macht dich daran so fertig?«
»Dass Morgan darin vorkam. Aber sie hat in solchen Träumen nichts zu suchen, Jolene. Da gehörst nur du hin. Ich will nicht vom Sex mit anderen träumen.«
»Das kann man nicht beeinflussen.«
»Ich hatte noch nie Sexträume mit jemand anderen, als dir!«
Jolenes Lippen formen sich wieder zu einem stolzen Schmunzeln. »Schön zu wissen, meinem Namen in deinem Handy gerecht zu werden.«
»Jolene«, brumme ich.
»Cait.«
»Mir kommt es aber so vor, als hätte ich dich betrogen. Es ist einfach nur falsch, wie sehr es mich angemacht und mir gefallen hat!«
»Du betrügst mich nicht, wenn ich Teil davon bin«, beschwichtigt sie mich. »Ich hatte weder in deinem Traum, noch hätte ich in der Realität etwas dagegen. Also lass dich nicht so sehr von deinem Gewissen plagen.«
»Natürlich hättest du in der Realität nichts dagegen«, zische ich. »Genauso wenig Morgan und all die anderen, die darauf sogar eine Wette abgeschlossen haben!«
Jolene lächelt nur entschuldigend.
»Du weißt also davon?«, frage ich empört.
»Sie existiert seit unserer Hochzeit, als du mit Morgan küssend auf der Tanzfläche standest.«
Mir entgleitet vor Fassungslosigkeit das Gesicht. »Und was hast du gewettet?«, frage ich mit dunkler, wütender Stimme.
»Gar nichts.«

Eigentlich sollte mich diese Antwort erleichtern, und doch bleibe ich skeptisch und sehe sie entsprechend an. »Weil du nicht wolltest, oder weil du nicht durftest?« Letzteres ist immerhin nicht abwegig, da Jolene öfters aus den Wetten unseres Freundeskreises ausgeschlossen wird, weil sie viel zu oft gewinnt.
»Beides.«
»Und Morgan? Hat sie mitgemacht?«
»Auch nicht«, antwortet sie überzeugend. »Babe, es ...«
»Wie kommen sie darauf, solch eine Wette abzuschließen??«, frage ich etwas aufgebracht und unterbreche sie bei dem, was sie mir sagen wollte.
»Cait, selbst ein Blinder bemerkt die Spannung, wenn du und Morgan in derselben Umlaufbahn seid. Jeder weiß, es würde passieren, sobald ich mein OK gebe.«
»Woah, stopp! Nein! Nein, das würde es nicht. Ich liebe sie und sie ist mir wichtig, aber ich will keinen Sex mit ihr! Meine Gefühle für sie sind ganz ganz andere, als jene, die ich für dich empfinde, Jolene. Sie hat diese Magie, die auch du hast, aber alle Gefühle, die sie in mir auslöst, beziehen sich ganz alleine auf dich.«
»Ich weiß«, antwortet sie milde lächelnd. »Uns geht es auch gar nicht darum, dich ins Bett zu kriegen. Du weißt, weder Morgan noch ich würden dich je zu etwas drängen, was du nicht willst, oder du nicht mit dir selbst vereinbaren kannst. Wenn es für dich nicht in Frage kommt, dann kommt es schlicht nicht in Frage. Niemand wird dir da irgendwas einreden, dich überreden oder dazu drängen; und wenn doch, hat er ein ziemlich großes Problem mit mir.« Wieder streichelt sie mir sanft über die Wange. »Ich würde alles für dich tun, weil ich will, dass du glücklich bist.«

Die ganze Anspannung fällt langsam von mir ab. Nicht nur wegen ihrer Worte die ein wahrer Balsam für meine Nerven sind, sondern auch die Art, wie sie mich wieder in ihre Arme zieht und mich an sich drückt.
»Wieso ist es ein solch großes Thema? Wieso reizt es euch so, mit mir ins Bett zu gehen?«, will ich wissen, verharre aber in dieser wohltuenden Position in ihren Armen.
Ich spüre Jolenes Schulterzucken. »Morgan, weil sie dich erleben will; weil sie weiß, dass es mit dir etwas ganz anderes und besonderes sein wird.« Sie drückt mich ein wenig von sich, damit sie mir in die Augen sehen kann; ein liebliches Lächeln liegt auf ihren Lippen. »Und ich, weil ich dich auf einer noch nie dagewesenen Ebene verwöhnen und glücklich machen will.«
»Das ist falsch«, lehne ich ab und schüttle den Kopf. »Für Morgan sollte der Sex mit mir nichts besonderes sein. So sollte sie es für Amber empfinden.«
Jolene schmunzelt unverhofft etwas belustigt, aber nicht spöttisch, weshalb ich sie fragend ansehe.
»Würdest du dich selbst so sehen, wie wir dich sehen, würdest du uns verstehen. Mir ging es damals nicht anders, als ich dich kennenlernte. Ich wollte dich unbedingt erleben, weil ich mir sicher war, dass es mit dir ganz anders und neu sein wird. Ich war nervös und hatte Angst, etwas Falsches zu tun, oder dir nicht gerecht zu werden.«
»Wirklich?«, frage ich überrascht und will ihr das gar nicht glauben. Jolene und Angst, zu versagen?
»Wirklich«, bestätigt sie lächelnd. »Du bist unberechenbar«, fügt sie hinzu. »Du lockst mit deiner süßen, unschuldigen und schüchternen Art. Und wenn man darauf anspringt, schnappst du zu und zeigst, dass du alles andere als unschuldig und schüchtern bist. Jeder Moment mit dir ist neu und überraschend. Man weiß nie, für welchen Schritt du dich als nächstes entscheiden wirst. Sowohl hier draußen, als auch im Bett.« Sanft streicht sie mir eine Strähne hinters Ohr. »Und das ist das, was uns so an dir reizt.«
So sehr mich diese Worte rühren, mir gefallen und mein Herz wild schlagen lassen, ebenso intensiv schießt mir die Röte ins Gesicht.
Schmunzelnd streichelt sie mir über die Wange, während sie mir in die Augen sie. »Du bist so unglaublich süß«, flüstert sie.
Ich stoße ein frustriertes Raunen aus. »Ja, ja«, gebe ich schnaubend von mir. »Jetzt küss mich endlich, damit ich auf andere Gedanken komme.«
»Genau das meinte ich«, antwortet sie lachend, bevor sie meiner Bitte folgt und mir einen langen, innigen Kuss schenkt. »Ich liebe dich, Cait. Und das wird sich auch dann nicht ändern, wenn du feuchte Träume mit anderen hast, verstanden?« Immer noch sanft lächelt sie und berührt mich.
»Verstanden«, entgegne ich nickend und schmiege mich wieder an sie.

So bleiben wir einen langen Moment stehen, bis ich mich gänzlich beruhigt habe. Meine Atmung wird flacher, die Aufregung und die Wut verebben. Soweit, dass mir meine Reaktion auf diesen Traum sogar übertrieben dämlich vorkommt.
Vielleicht hat Jolene aber auch einfach nur die richtigen Worte gefunden, die ich gebraucht habe.
»Hey, was hältst du davon, etwas Unanständiges zu tun?«, fragt sie mit einem leicht frechen Unterton.
»Sex unter freiem Himmel hier neben dem Haus?«, entgegne ich perplex.
Sie lacht kurz auf. »Nein, eigentlich dachte ich daran, uns ein Pferd zu stibitzen und dort auf den Hügel zu reiten, um den Sonnenaufgang zu sehen«, sagt sie und deutet in die Richtung, wo sich die Sonne bald am Horizont erheben wird. »Aber wir können auch Sex unter freiem Himmel haben«, fügt sie spitzbübisch hinzu.
»Ich hab' für heute Nacht genug Sex gehabt«, murmle ich und bringe sie erneut zum Lachen. »Aber den Sonnenaufgang in Zweisamkeit genießen würde mir gefallen.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zieht sie mich zum Pferdestall, wo wir dann genau das tun, was sie vorgeschlagen hat.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt