[Neunundfünfzig] - Gedankenchaos I

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Mit eben diesen Schrei schrecke ich auf.
Von Dunkelheit umgeben, suche ich nach dem Lichtschalter.
»Oh, mein Gott«, stoße ich atemlos aus und sehe mich im Raum um, um zu sehen, wo ich bin.
»Babe?«, kommt es müde von Jolene, die mir mit kleinen, schläfrigen Augen entgegensieht.
»Oh, mein Gott!«, wiederhole ich panisch und springe aus dem Bett. Hastig sammle ich meine Klamotten zusammen und ziehe sie mir über.
»Cait«, spricht sie mich erneut an und fordert meine Aufmerksamkeit. Mit einem verwirrten Blick beobachtet sie mich.
»Ich muss hier raus«, japse ich, greife nach meinem Handy und verlasse das Zimmer.
Noch während ich die Treppen nach unten gehe und das Haus verlasse, suche ich Naddys Nummer in meiner Kontaktliste und rufe sie an.
Obwohl es draußen dunkel ist und wir uns quasi in der Wildnis befinden, ist meine Panik stärker als die Angst, von einem Raubtier oder einem verirrten Mörder angefallen zu werden.
Nervös greife ich mir in die Haare und warte, bis das endlose Klingeln endet.

»Babe«, ertönt Jolenes Stimme hinter mir. Sie ist mir nach draußen gefolgt und sichtlich mit meiner Reaktion überfordert.
»Geh weg«, befehle ich ihr und verbiete ihr, sich mir zu nähern.
Sie aber ignoriert meine Aufforderung und kommt weiterhin auf mich zu.
»Ich muss mit Naddy reden«, sage ich und halte Abstand zwischen uns. »Mit Naddy«, wiederhole ich betonend, »nicht mit dir. Nicht jetzt.«
Jolene stockt und sieht mich vollkommen irritiert an.
»Bitte geh«, sage ich erneut.
Sie zögert, nickt dann aber. »Ich bleibe in der Nähe«, sagt sie und deutet zur Veranda, wo sie auf mich warten will.
Erleichtert atme ich auf und genehmige ihr, dort zu verweilen.

Naddys Stimme haucht endlich ins Telefon. Völlig schlaftrunken, aber das wird sie gleich nicht mehr sein.
»Ich muss mir dir reden!«, teile ich ihr verzweifelt mit.
»Okay, warte«, bittet sie mich und ich höre es rauschen und gruscheln, weil sie sich aus dem Bett quält und das Schlafzimmer verlässt. »Was ist los?«
»Ich brauche dich.«
»Ich bin da.«
»Ich ...«, beginne ich, aber ein Schluchzen unterbricht mich dabei.
»Cait, was ist passiert?«, fragt sie nachdrücklicher. »Ist jemand im Knast? Im Krankenhaus, oder schlimmer??«, bohrt sie weiter, weil ich vor Schluchzen immer noch nicht antworten kann.
»Nein, es ...«
»Geht es um Jolene?«
»Ja.« Ich nehme einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen, damit ich anständige Sätze herausbekomme und Naddy nicht so viele Fragen stellen muss.
»Was ist passiert? Habt ihr euch gestritten? Lasst ihr euch scheiden? Ist was mit dem Baby?«
»Nein, nein«, bremse ich sie. »Nichts dergleichen. Mit uns ist alles in Ordnung. Niemand ist verletzt, verhaftet, gestorben oder lässt sich scheiden. Ich liebe sie, sie liebt mich. Alles ist gut ... naja, fast alles.«
»Fast alles?«, fragt sie deutlich verwirrt.
»Ich hatte Sex mit Jolene«, beginne ich, halte aber noch einen Moment inne, um meine Gedanken irgendwie zu sortieren.
»Nein?!«, antwortet sie und verstellt ihre Stimme, als wäre sie darüber schockiert.
Ich stoße ein genervtes Schnauben aus. »Es war verdammt guter Sex.«
»Ja, wow«, raunt Naddy und ich kann förmlich hören, wie sie die Augen verdreht. »Den hast du immer.«
»Aber nicht nur mit ihr ... auch mit Morgan. Ich hatte auch Sex mit Morgan. Mit beiden. Gleichzeitig.«
Geschocktes Schweigen. Es ist so still, ich kann sie nicht mal atmen hören und muss sogar nachfragen, ob sie überhaupt noch da ist.
Als Antwort erhalte ich lediglich ein gequältes Grunzen.
»Lachst du gerade darüber??«, frage ich entsetzt.
»Ich versuche es, zu unterdrücken«, gibt sie ehrlich zu.
»Das ist nicht witzig!«, zische ich wütend.
»Doch, ist es«, antwortet sie kichernd. »Du hattest heißen Reid-Sex und reißt mich deshalb nachts um drei aus dem Bett, um mir davon zu berichten. Es muss wirklich wahnsinnig gut gewesen sein.«
»War es«, raune ich. »Aber es war auch nur ein Traum«, kläre ich sie schließlich auf.
Erneut herrscht kurze Stille, ehe sie wieder redet. »Ein Traum? Echt jetzt? Du hattest einen feuchten Traum und rufst mich deshalb mitten in der Nacht an??«
»Würdest du mich bitte ernst nehmen?!«, fauche ich sie an.
»Das würde ich ja, wenn es was Ernstes wäre. Aber was zum Henker regt dich daran denn auf?«
»Für mich ist es ernst, denn es war so real!«
»Ich verstehe immer noch nicht, was daran jetzt so schlimm ist«, brummt sie und ich kann die Kaffeemaschine im Hintergrund surren hören.
»Dass Morgan darin vorkam!« Ich bin ehrlich gesagt pikiert darüber, wie unbeeindruckt sie darauf reagiert. »Und es hat mir auch noch gefallen, was sie mit mir gemacht haben... nicht nur im Traum. Mein Körper reagiert immer noch darauf!«
»Und?«, fragt sie gleichgültig.
»Was und?? Naddy!«
Naddy schnaubt hörbar. »Cait, mal im Ernst: Es ist ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis das passiert. Und offensichtlich dauert es nicht mehr lange.«
Geschockt starre ich mein Handy an, ehe ich es wieder an mein Ohr lege. »Wie bitte?!?«
Darauf erhalte ich aber keine Antwort, weil es ihr anscheinend gerade wichtiger ist, sich einen Kaffee zu machen.
»Ich werde nie Sex mit Morgan haben, hörst du? Nie!« Ich muss mich unglaublich beherrschen, nicht so laut zu schreien, wie ich es gerne tun würde, denn ich möchte nicht, dass Jolene hört, was ich Naddy da erzähle.
»Aber mit Jolene und Morgan«, antwortet sie und beginnt zu glucksen. »Die Wetten laufen bereits.«
Erneut starre ich das Handy fassungslos an.
»Naddy, ich habe Jolene quasi betrogen!«, betone ich und beginne zu schluchzen. »Und du redest hier von irgendwelchen Wetten??«
Naddy stößt ein genervtes Stöhnen aus. »Beruhige dich, Cait, bitte. Du hast Jolene nicht betrogen. Es war doch nur ein Traum ... und sie war sogar dabei.«
»Wieso fühlt es sich dann so an??« Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und beginne unkontrollierbar zu Schluchzen.
»Weil du du bist und dein Kopf manchmal einfach nur Scheiße«, antwortet sie nüchtern. »Cait«, verlangt sie meine Aufmerksamkeit, weil ich darauf nichts sage. »Rede mit Jolene. Sie kann dir deine Sorgen nehmen.«
»Nein.«
»Dann rede mit Jessica darüber, oder Amber.«
»Ja, natürlich. Ich rede mit Amber darüber, welch heißen Traum ich mit ihrer Freundin hatte und wie geil es war. Das hilft mir ganz sicher«, antworte ich zynisch.
Naddy stöhnt erneut genervt. »Amber hat auch gewettet. Sie wartet also förmlich darauf, dass es passiert. Es wäre also keine Überraschung für sie.«
Fassungslosigkeit zum Dritten. Was für einen kranken Freundeskreis habe ich denn, bitte schön??
»Rede mit Jolene«, kommt es im Befehlston von Naddy. »Sie ist die Einzige, die dir deine dämlichen Gedanken nehmen kann. Notfalls bitte sie wieder darum, dich flachzulegen. Das klappt ja immer sehr gut.«
»Das hat sie schon getan.«
»In der Wirklichkeit!«
»Ja! Vermutlich hat genau das diesen Traum ausgelöst.« Und eventuell der Anblick von ihr und Morgan in diesem Kuhstall.
»Dann soll sie dich halt nochmal flachlegen«, raunt sie und schlürft hörbar an ihrem Kaffee.
»Bis nächste Woche«, sage ich bissig und will auflegen.
»Cait«, sagt sie und hindert mich daran, das Telefonat zu beenden. »Bitte beruhige dich. Es war nur ein Traum. Das hat überhaupt nichts zu bedeuten.« Ihr Stimme ist jetzt sanft und ernst. Sie hat wohl gemerkt, dass ich das Ganze nicht so leicht nehmen kann, wie sie denkt.
»Für mich schon«, murmle ich.
»Ich sag' dir mal was: Du gehörst vermutlich zu dem einen Prozent der Weltbevölkerung, der einen feuchten Traum mit dem eigenen Partner hat. Treuer geht es kaum. Du hast Jolene nicht betrogen, und sie wird es auch nicht so auffassen. Rede mit ihr.«
»Das siehst du so«, gebe ich kleinlaut von mir, fast schon trotzig.
»Das sehe ich so, das sieht Jolene so, Morgan, Amber ... alle.«
Erneut stoße ich ein lautes Schnaufen aus und wische mir mit einem letzten Schluchzen meine Tränen weg.
»Wo ist Jolene? Schläft sie noch?«
»Nein. Sie ist wegen mir auch wach geworden«, murmle ich. »Sie steht ein paar Meter entfernt und wartet darauf, dass ich sie wieder in meine Nähe lasse.«
»Die Geduld dieser Frau ist echt beeindruckend. Mir gehen langsam die Lorbeerkränze aus«, gibt sie fast schon grunzend von sich. »Rede mit ihr, Cait. Sie liebt dich sehr und wird es dir nicht übel nehmen.« Das sagt sie ausgesprochen selbstsicher, um mir mehr Mut zuzusprechen.
Ich nicke lediglich und lege nach einem kurzen Abschied auf.

Mein Blick wendet sich Jolene zu, die tatsächlich noch auf der Veranda steht und zu mir sieht; mit verschränkten Armen lehnt sie sich gegen den Stützbalken des Vordaches. Keine Sekunde hat sie mich aus den Augen gelassen. Vermutlich, um sicher zu gehen, dass mir nichts passiert, während ich hier draußen alleine herumgeistere.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob sie das Gespräch von mir und Naddy mitbekommen hat, und wenn ja, was? Nachts ist es sehr leise draußen und selbst kleine Geräusche hallen. Noch dazu war ich zwischenzeitlich nicht unbedingt leise, weil mich Naddy so aufgeregt hat.
Die Angst steigt in mir auf, weil ich befürchte, Jolene könnte wirklich etwas von dem Gespräch mitbekommen und diese Fetzen falsch interpretiert haben.
Von hier aus kann ich ihren Ausdruck nicht erkennen; nicht erkennen, ob sie wütend ist, oder bedrückt, verwirrt, liebevoll.
Mit einem Seufzen stoße ich einen tiefen Atem aus und straffe meine Schultern, um Jolene selbstbewusster entgegen zu treten, wenn ich ihr meinen Traum beichte.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt