[Vierundachtzig] - Schlechte Umstände erfordern gute Maßnahmen

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Die Nacht war endlos und äußerst anstrengend für mich.
Mir war es nicht möglich, in den Schlaf zu finden. Meine Gedanken kreisten unentwegt um Jolene und alles, was am Tag passiert ist.
Das Thema wühlt mich auf und auch das Baby scheint auf meine Unruhe zu reagieren. Die Bewegungen wirkten, als würde es sich - so wie ich - einfach nur hin und her wälzen.
Ich war todmüde, aber an schlafen war nicht zu denken, so habe ich einfach irgendwie die Zeit totgeschlagen, bis endlich Amber vor der Tür stand, um mich für den Besuch bei Morgan und Jolene abzuholen.

So, wie Amber aussieht, ging es ihr ähnlich. Ich würde sogar behaupten, sie sieht so aus, wie ich mich fühle: Müde und gereizt.
Und meine Laune hebt sich selbst dann nicht, als ich es nicht mehr weit bis zu Jolene habe, denn die Wärterinnen, die mich durchsuchen, nehmen ihren Job wohl ein bisschen zu ernst. Sie sind sehr penibel und führen die Durchsuchung ausgiebig durch. Sie blicken sogar tief in meinen Rachen und inspizieren meinen Mund; sogar an meinen Zähnen wackeln sie. Kurz hege ich das Bedürfnis zuzubeißen.
»Soll ich noch mein Baby auspacken, damit ihr es auch durchsuchen könnt?«, frage ich deshalb zynisch.
Natürlich weiß ich, sie müssen nur sichergehen, dass niemand etwas hineinschmuggelt, aber so intensiv wurde ich nicht mal untersucht, als wir Johnny besucht haben.
Ich muss sogar meinen Bauch entblößen, um zu zeigen, dass es wirklich ein Babybauch ist.
»Sie glauben gar nicht, wie kreativ Besucher sein können«, rechtfertigt sich eine der Wärterinnen, die mich untersuchen.
Ich bin viel zu gefrustet, um Verständnis zu haben und lasse mich grummelnd weiter führen, als sie endlich fertig sind und mir den Zutritt erlauben.
An dieser Stelle trennen sich die Wege von Amber und mir. Sie wird in die entgegengesetzte Richtung geführt, was uns beide mehr als irritiert.
Amber fragt sogar lautstark nach, was hier los ist.
Was wir erfahren, hilft wirklich nicht dabei, die Laune zu verbessern. Wir werden nicht in dem üblichen Besuchsraum sitzen, der sonst dafür vorgesehen ist. Wir werden unseren Frauen einzeln gegenübersitzen, umringt von Wärterinnen, die aufpassen, dass wir nichts verbotenes tun.

Wie wir erfahren, sitzen Morgan und Jolene getrennt, ja sogar in Einzelhaft, damit sie mit niemanden Kontakt aufnehmen können; vorallem nicht zueinander. Aus Sicherheitsgründen, wie man uns erzählt.
Wir sind fassungslos darüber; als wären sie Mafiabosse, die selbst im Knast ihre Kontakte haben und zu einer Revolte aufrufen könnten.
Ich seufze betrübt, als ich das erfahre, denn es bricht mir das Herz. Nicht nur, weil sie beide 24 Stunden alleine sind, sondern auch, weil ich Morgan nicht sehen werde.
Zum Glück haben wir die Kinder meiner Mutter übergeben, damit wir ganz offen und ungestört mit unseren Frauen reden können - so sehen sie nicht, wie ihre Mütter behandelt werden.
Umso mehr hegen wir die Hoffnung, dass Terance was bei diesem Richter bewirkt, damit Jolene und Morgan im Idealfall noch heute wieder auf freien Fuß kommen.

Ich atme erleichtert aus, als ich den Raum betrete, in dem ich gleich Jolene gegenüber sitzen werde. Uns wird keine Glasscheibe trennen, so wie ich es wegen dieser intensiven Durchsuchung und ihrer Einzelhaft befürchtet habe.
Auch wenn ich es vielleicht nicht darf, aber ich will sie berühren können; wenn nicht, dann wenigstens ihren Duft einatmen, ihre Stimme richtig hören und nicht gedrungen durch einen Hörer.
Ein weiteres Mal atme ich erleichtert aus, als sie dann endlich diesen tristen Raum betritt.
Sie hat ihre Hände frei und trägt auch nicht diesen typischen Overall, sondern eine graue Jogginghose und ein lockeres T-Shirt.
Aller Vernunft zum Trotz kann ich mich nicht zurückhalten und springe ihr regelrecht in die Arme, als sie mir so unglaublich süß entgegen lächelt.
Umgehend erwidert sie das und schafft es sogar mit einem recht ruppigen Ton, die Wärterinnen davon abzuhalten, uns wieder zu trennen. Ihre Worte sind vorwurfsvoll und unmissverständlich.
»Sie dürfen keinen Körperkontakt haben!«, belehrt uns eine der Frauen.
»Wovor habt ihr denn Angst?«, belle ich deshalb zurück. »Ihr habt sogar meine Zähne untersucht. Denkt ihr die sind nicht echt und bestehen aus reinem Koks?! Oder denkt ihr ich habe noch eine Geheime Backentasche, aus der ich eine Metallsäge ziehe?«
Jolene lacht kurz auf, umgreift mein Gesicht mit beiden Händen, damit ich meine Aufmerksamkeit von den Frauen abwende und auf sie richte. Dann beugt sie sich zu mir und küsst mich.
In diesem Moment fällt jegliche Anspannung von mir ab und ich erschlaffe regelrecht in ihren Armen.
Meine Worte scheinen trotzdem wirkungsvoll gewesen zu sein, denn sie unterbrechen uns nicht und genehmigen uns diese wohltuende Innigkeit.
Es dauert einen Moment, bis ich mich gänzlich beruhigt habe und wir uns einander lösen.
»Ich habe Chester bei meiner Mutter gelassen«, seufze ich, als sie ihre Stirn an meine legt. »Weil wir viel zu bereden haben.«
»Dann lass' uns keine Zeit verschwenden«, antwortet sie, küsst meine Stirn und setzt sich an den Tisch.
Ich seufze einmal tief, ehe ich mich zu ihr setze und ihr direkt in die Augen sehe.
Entweder sie hat mal wieder ihr undurchschaubares Pokerface aufgesetzt, oder aber sie ist von der ganzen Situation wirklich nicht sonderlich beeindruckt und nimmt es gelassen.
Die Gelassenheit wird ihr aber gleich aus dem Gesicht weichen.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt