[Sechsundsechzig] - Das letzte Mal

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Als ich mich dann auch in Bewegung setze, um zur Bühne zu gehen und nach meiner Frau zu suchen, halte ich inne, weil ich das Vibrieren meines Handy bemerke.
»Wollt ihr mich eigentlich verarschen??«, brüllt mir Dennis entgegen.
Erschrocken reiße ich mein Handy vom Ohr und sehe es irritiert blinzelnd an, ehe ich es wieder ranhalte. Dabei sehe ich, von ihm bereits fünf verpasste Anrufe zu haben.
»Was? Wieso?«, frage ich.
»Von wegen, sie kann nicht singen!«, echauffiert er sich.
Jetzt bin ich noch irritierter und sehe mich suchend nach ihm um, kann ihn aber nirgendwo finden. Sagte er nicht, er und Winnie wären in Detroit bei ihren Eltern? Wie kann er sonst von dem Auftritt von Morgan und Jolene wissen?
»Das Festival kann man online streamen«, klärt er mich schließlich auf, weil er mein Schweigen richtig interpretiert hat.
Echt jetzt? Erneut sehe ich mich um, diesmal aber, um nach Kameras zu suchen, die das wohl aufzeichnen.
»Weißt du, wie mir hier einer abging?! Morgan kann froh sein, dass gerade über eintausend Meilen zwischen uns liegen!«
»Dennis!«, schimpfe ich geschockt mit ihm. »Winnie!«
»Winnie!«, sagt er aufgebracht. »Winnie sitzt neben mir und übernimmt gerne den Dreier mit Jolene und Morgan für dich!«
Abermals nehme ich das Handy von meinem Ohr und starre es an. Ich brauche einen Moment, um mich zu besinnen. Aber als ich es mir wieder ans Ohr halte, höre ich nur noch das Tuten, weil er einfach aufgelegt hat.
Oh je, ich kann jetzt schon vor meinem inneren Auge sehen, wie er unser Haus stürmt, sobald er wieder in Miami ist, um sowohl Jolene, als auch Morgan zur Rede zu stellen.
Aber ich kann ihn auch verstehen. Schließlich war ich nicht minder überrascht, als Morgan auf der Bühne ihr Talent offenbart hat.
Jahrelang bestritt sie, musikalisch zu sein, wenn sie danach gefragt wurde und dann legt sie hier heute so eine Nummer hin.

Seufzend stecke ich mein Handy wieder ein und sehe Jolene entgegen, während sie mit einem breiten Grinsen auf mich zukommt.
»Wo sind Amber und Morgan?«, frage ich zunächst und versuche, sie irgendwo zu sehen.
»Vermutlich in irgendeiner dunklen Ecke, wo sie sich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses strafbar machen«, antwortet sie unaufhörlich grinsend, legt ihre Arme um mich und zieht mich an sich heran.
»Am liebsten würde ich das auch mit dir tun«, raune ich. »Das war echt nicht nett, was ihr da gemacht habt.«
»Du hättest das verhindern können«, spricht sie und erinnert mich an ihren Blick, den sie mir zugeworfen hat, als Brandon sie um den Gefallen bat. »Ein Wort von dir, und wir wären nicht auf die Bühne gegangen.«
»Nicht nur Ambers Keller steht unter Wasser«, brumme ich leise und meide den Blick zu ihr.
»Wir finden bestimmt auch ein Eckchen für uns«, flüstert sie mir verführerisch ins Ohr.
»Nein!«, lehne ich sofort ab und drücke sie ein Stück von mir. »Wir warten, bis wir zuhause sind!«
»Dann lass uns nachhause gehen.«
»Wir können nicht einfach gehen.«
»Doch können wir. Die anderen beiden finden den Weg auch alleine«, antwortet sie schmunzelnd und zuckt auffordernd mit ihren Augenbrauen. »Wir haben auch das Haus für uns ganz alleine«, versucht sie zu argumentieren.
»Wir warten auf die anderen. Wir sind höflich«, betone ich.
Jolene behält ihr freches Schmunzeln aufrecht, akzeptiert aber meine Entscheidung und zieht mich für einen zärtlichen Kuss zu sich.

»Ich gehe uns was zu trinken holen«, sagt sie dann, streichelt mir sanft über die Wange und wartet auf meine Erlaubnis.
»Eistee«, bestelle ich und lächle ihr zu.
Nochmals küsst sie mich kurz und steuert einen der Stände an, an denen es etwas zu trinken gibt. Mein Blick folgt ihr, bis sie in der Menge verschwunden ist.
Anschließend drehe ich mich um, und sehe zur Bühne, auf der sie eben noch gestanden hat, in der Hoffnung, irgendwo Morgan und Amber zu entdecken.
»Hi, Cait«, höre ich plötzlich eine männliche Stimme hinter mir und drehe mich um.
Sofort bleibt mein Herz stehen und innere Unruhe durchfährt mich.
Weder wollte ich diese Stimme je wieder hören, noch das Gesicht sehen.
Martin.
»Deine Freundin war echt gut«, lobt er mit einem freundlichen Lächeln, wobei sein Lob nur geheuchelt ist, um mit mir ins Gespräch zu kommen.
»Frau«, korrigiere ich ihn direkt. »Und: Ich weiß.« Purer Stolz erfüllt mich, als ich wieder an den Auftritt denke. Wer diesen nicht gut fand, braucht entweder eine Brille, oder ein Hörgerät. Oder aber beides.
»Wie geht es dir?«, fragt er und nähert sich mir.
»Bestens«, antworte ich und sehe mich wieder suchend um; hoffend, Jolene würde zurückkommen, oder aber Amber und Morgan. Irgendwer, der mich aus dieser Situation befreien kann, in der ich mich eigentlich nie wieder befinden wollte.
Seine pure Anwesenheit reicht, um in mir Stress auszulösen. Egal, wie nett er zu mir ist.
»Lange nichts mehr von dir gehört. Hab gehofft, du würdest dich mal melden, nachdem wir uns im Supermarkt getroffen und ein wirklich nettes Gespräch geführt haben.«
Ich kann ihm da nicht zustimmen, denn mir Vorzuwerfen, Chester wäre das Kind einer meiner Affären, und ich ihn deshalb verlassen habe, empfinde ich nicht wirklich als nett.
Ungefragt, ob es mich interessiert, berichtet er mir von seiner neuen Beziehung und führt somit das Gespräch fort, bei dem uns Chester damals unterbrochen hatte, weil er nach Hause wollte.
Ehrlich gesagt höre ich ihm dabei aber gar nicht zu und sehe mich lieber wieder suchend um.
»Und sobald die Wirkung ihrer Verhütung nachlässt, legen wir mit dem Babymachen los«, höre ich ihn dann sagen und lenke meine Aufmerksamkeit wieder zu ihm. »Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Du wolltest doch auch eines bekommen. Wisst ihr schon, wie ihr es machen wollt?«
Wortlos lege ich meine Hand auf meinen Bauch, um ihn auf die kleine Wölbung aufmerksam zu machen, die ihm offensichtlich noch nicht aufgefallen ist.
»Oh, du bist schon schwanger?«, fragt er und ich kann an seinem Ausdruck nicht ganz erkennen, welche Gefühle das in ihm auslöst. Er ist auf jeden Fall überrascht, aber es ist noch etwas anderes zu erkennen. Missgunst? Neid?
»Das ging schnell«, merkt er an.
Nein, ging es nicht. Denn wenn es nach uns gegangen wäre, wäre unser geplantes Kind schon vor zwei Jahren auf die Welt gekommen. Aber das ist eine Info, die ich ihm gewiss nicht geben werde. Nicht nur, weil es ihn ohnehin nichts angeht, sondern auch, weil das seiner Schadenfreude nur in die Hände spielen würde.
»Wie weit bist du?«
Es ist definitiv Neid, der jetzt in seinem Gesicht geschrieben steht.
»17. Woche«, antworte ich widerwillig. Ich möchte mich nicht mit ihm darüber unterhalten, obwohl ich durchaus das Bedürfnis verspüre, ihm alles unter die Nase zu reiben. Aber dann würde ich mich noch tiefer in sein klebriges Spinnennetz locken lassen und darauf habe ich keine Lust. Vor allem möchte ich nicht, dass er sich Hoffnungen macht, unser Verhältnis wäre toll, nur weil ich mich mit ihm darüber unterhalte.
»Weißt du schon, was es wird?«
»Nein.« Und selbst wenn, würde ich es ihm nicht erzählen.
Einen Moment schweigt er, während sein Blick nachdenklich auf meinem Bauch liegt. »Ich verstehe es immer noch nicht. Du warst damals so extrem dagegen, Kinder zu bekommen, und jetzt ...«
Und da ist es. Das Thema über unsere Beziehung. Die alte leidige Leier.
»Weil du es nicht verstehen willst«, antworte ich emotionslos. »Ich war nie dagegen, Kinder zu bekommen. Ich war dagegen, Kinder mit dir zu bekommen.«
»Aber wieso? Wir waren glücklich. Es war alles perfekt und ein Kind hätte unser Glück noch perfekter gemacht.«
Es hat einfach keinen Sinn, ihm das zu erklären. Wenn ich es tue, wird er wieder wütend und streitet alles ab. Er raubt mir schon mit seiner bloßen Anwesenheit die Energie. Eine Debatte darüber, würde mich gänzlich fertig machen. Also seufze ich lediglich und schüttle den Kopf.
Ein Kind hätte überhaupt nichts perfektioniert. Ein Kind hätte alles nur schlimmer gemacht. Er wäre noch eifersüchtiger gewesen, als ohnehin schon. Er hätte kein Verständnis dafür gehabt, wie viel Aufmerksamkeit ein solches benötigt. Er hätte nicht akzeptiert, zurückstecken zu müssen.
Zu dem Thema zu schweigen scheint aber auch keine Lösung zu sein. Er steigert sich trotzdem hinein und wirft wieder mit sämtlichen Wahnvorstellungen um sich; trichtert sich selbst Gründe ein, die mich dazu bewegt haben, kein Kind mit ihm zu bekommen, oder generell nicht mehr mit ihm zu schlafen.
Raunend greife ich mir an die Nasenwurzel und lasse seinen Schwall einfach über mich ergehen.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt