[Vierundsiebzig] - Doppelte Abstinenz

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Wie sich für mich später herausstellte, war der Cyberangriff auf BNS kein ausgedachter Grund, um den Hochzeitstag vermeintlich abzusagen.
BNS wird tatsächlich angegriffen - und zwar nicht nur Jolenes Unternehmen, sondern auch einige ihrer Subunternehmen.
Aufgrund dessen hat Jolene bei BNS den 3-Schichtdienst ausgerufen und etliche Aufträge auf Eis gelegt, weil sie ihre Jungs und Mädels jetzt braucht, um diesen Angriff zu beobachten, zu bewerten und zu stoppen.
Ihr gesamtes Team arbeitet jetzt also rund um die Uhr - ebenso auch Jolene, die sich selbst sogar Doppelschichten aufgebrummt hat. Nämlich von acht am Morgen bis nachts um zwölf.
Sie rotiert mit Brandon und Ian; Cormack hat sie nach New York zu Morgan geschickt, um auch dort die Server der Bank zu überprüfen und zu analysieren.
Dieser möchte nämlich auf diese Weise die Chance nutzen, um seinem Sohn näher zu sein und ihn besser kennenzulernen.
Morgan ist nach wie vor nicht begeistert davon, dass sich Cormack tatsächlich als der leibliche Vater herausgestellt hat, aber sie will weder ihm noch ihrem Sohn da im Wege stehen, sich einander kennenzulernen.
Jolene war anfangs gar nicht gewillt gewesen, ihn nach New York zu schicken. Eben aus dem Grund, der jetzt sechs Jahre alt ist. Sie befürchtete, Cormack könnte seine Arbeit vernachlässigen, weil er lieber Zeit mit Kyle verbringt und deshalb abgelenkt sein könnte; oder aber, dass Morgan ihn ablenken könnte.
Da Morgan aber sehr deutlich gemacht hat, keinerlei Interesse an Cormack zu haben und sie ihn kastrieren werde, sollte er auf andere Gedanken kommen, hat Jolene schließlich eingelenkt. Aber auch sie hat Cormack nochmal klar gemacht, was ihn erwartet, sollte er seine Arbeit nicht im Fokus behalten.

Ich bekomme Jolene also seit Tagen kaum noch zu Gesicht. Eigentlich nur Morgens, bevor sie zu ihrer Schicht aufbricht, und da bleibt nicht viel Zeit für Innigkeit oder eine Unterhaltung.
Heute ist sie zur Abwechslung mal bei CaddySign und sitzt in unserem kühlen Serverraum, um unsere Logs zu überprüfen. Zeit für mich nimmt sie sich dennoch nicht. Mein Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen, wird mit einem »Ich habe keine Zeit, Babe« und einem flüchtigen Kuss als Entschädigung abgewiesen.
Jolene ist zu fokussiert, um überhaupt ansprechbar zu sein. Unentwegt starrt sie auf den Monitor, auf dem ich eine Wand aus Hieroglyphen in schwarzer, orangener oder roter Schrift sehe.
Die orangenen Zeilen kann ich als Warnmeldungen erkennen, die roten als Fehlermeldungen. Was genau sie aber bedeuten und aussagen, weiß ich nicht, da ich von ihr keine Antwort bekomme.
Sie hat das Headset auf und unterhält sich mit Brandon über diese Sache, aber auch diese Gespräche sind nur fetzen für mich - und die wiederum sowieso im Fachchinesisch, weshalb ich also gar nicht verstehe, worüber sie mit ihm redet.
Weil ich ihr sowieso nicht helfen kann und sie vermutlich nur störe, lasse ich sie dort alleine.

Erst als ich aufbreche, um Chester von der Schule abzuholen, gehe ich nochmal zu ihr. Vielleicht nimmt sie sich wenigstens zum Verabschieden Zeit.
Meine Hoffnung verfliegt allerdings, als ich den Serverraum betrete und sie immer noch starr auf den Monitor sieht.
»Hoffentlich fängst du dir keine Erkältung ein«, sage ich und streiche ihr sanft durchs Haar. Denn eine solche kann sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Meiner Meinung nach sitzt sie schon viel zu lange in diesem kühlen Raum. Nicht einmal hat sie diesen in den letzten fünf Stunden verlassen; weder, um etwas zu essen, zu trinken, oder um aufs Klo zu gehen.
Ich wette, wenn ich ihre Hände jetzt in meine nehme, sind ihre Finger eiskalt.
»Bis heute Abend«, sage ich und drücke ihr meine Lippen ins Haar.
»Ich liebe dich«, kommt es von ihr, ohne ihren Fokus vom Monitor zu nehmen.
Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Nochmals streiche ich ihr durchs Haar und verlasse den Raum.

Als ich unsere Einfahrt hinauf fahre, erkenne ich Ambers Mercedes Cabriolet in Anthrazit dort stehen.
Sie selbst steht auf unserer Veranda und scheint auf uns zu warten.
Verwundert parke ich meinen Flitzer vor der Garage und steige aus.
Kurz schwelgt Chester in der Hoffnung, dass auch Kyle da ist, akzeptiert aber mit Enttäuschung Ambers Verneinung.
Ein Besuch von ihr alleine ist selten - und selten bedeutet er dann etwas Gutes.
»Was ist los?«, frage ich sie, während wir das Haus betreten.
»Dieser Cyberangriff, der unsere Frauen zu Geistern macht«, antwortet sie zynisch.
Verstehend lächle ich sie an, während ich Chesters Lunchbox aus seinem Rucksack wühle, um diese in die Spülmaschine zu räumen.
»Hast du irgendeine Ahnung, wie lange das noch so laufen wird?«
Ahnungslos schüttle ich den Kopf und bereite ihr einen Kaffee vor.
»Ich weiß noch nicht mal, was genau sie machen«, sage ich, als ich mich zu ihr an den Tisch setze.
»Immerhin hast du noch etwas von deiner Frau«, raunt sie unzufrieden und umgreift ihre Tasse mit beiden Händen.
»Nicht wirklich.«
Skeptisch sieht sie mich an. »Ihr lebt in einem Haus und schlaft in einem Bett.«
»Mehr aber auch nicht«, erwidere ich mit einem humorlosen Lächeln.
»Es ist immer noch mehr, als das, was ich habe. Ich habe seit einer Woche so gut wie nichts mehr von Morgan gehört. Ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich überhaupt eine Nachricht von ihr bekomme.« Sinnbildlich hält sie ihr Handy nach oben und wirft es auf den Tisch. »Ich erhoffe mir Antworten von dir, Cait.«
»Von mir?«, frage ich irritiert. »Morgan hat sich bei mir auch nicht gemeldet.«
»Ich meine nicht Morgan.« Sie führt ihre Tasse an ihre Lippen und schlürft einen kleinen Schluck. »Ich will wissen, was sie da machen.« Sie nimmt einen tiefen Atemzug und sieht mich an. »Ich finde es nicht gut, zu wissen, dass BNS attackiert wird und die Reids wieder auf eigene Faust handeln. Ich bin nicht nur deren Anwältin, sondern auch die von BNS selbst. Das, was da passiert, ist ein Verbrechen und gehört in juristische Hände. Auch wenn das in ihrer Welt ein wenig anders läuft, so leben wir aber in dieser hier, und in dieser Welt existieren Gesetze.«
»Jolene war heute bei CaddySign und es wirkte nicht, als wäre sie auf Gegenangriff, sondern, als würde sie lediglich beobachten und analysieren. Vielleicht sammelt sie nur Beweise, die sie dir dann geben kann?«
»Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt.«
»Ich kann dir da leider sonst keine Antworten geben, Ambs.« Entschuldigend lächle ich sie an. »Ich stehe genauso unwissend herum, wie du.«

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt