[Vierundsechzig] - Ins Gewissen reden

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Ein lautes Räuspern reißt uns aus unserem innigen Moment.
Morgan betritt das Haus und zieht eine Augenbraue skeptisch nach oben, während sie auf uns zukommt.
Kyle und Matt rennen an uns vorbei, direkt raus in den Garten, um mit Chester zu spielen.
»Bitte sag mir nicht, dass du so fertig aussiehst, weil die Eiskönigin endlich an die Maden verfüttert wird?«, spricht sie und deutet zur Haustür, aus der Milly eben gegangen ist, um zu verdeutlichen, von ihr soeben die Nachricht erhalten zu haben. Dabei stellt sie die Taschen der Jungs für das Wochenende neben der Treppe ab.
Jolene schweigt zunächst, atmet tief durch und geht zum Kühlschrank, aus dem sie für sich und Morgan ein Bier herausholt.
Noch immer schweigt sie und genehmigt sich zuerst einen kräftigen Schluck aus der Flasche, ohne den Blickkontakt zu Morgan zu unterbrechen.
»Meine Mutter wollte, dass wir zur Beerdigung gehen.«
»Und deshalb seht ihr so fertig aus?«, hakt Morgan verwundert nach und legt mir eine Hand auf die Wange, als würde sie dort etwas sehen, was ihr nicht gefällt.
»Dieser Blick nennt sich wütend«, antwortet Jolene und deutet betonend auf ihr Gesicht.
Morgan lacht kurz und nippt ebenfalls an ihrem Bier. »Ja, vermutlich würde man es erkennen, wenn ihr nicht gerade mit Schwangerschaftshormonen vollgepumpt wärt.«
Tatsächlich muss ihr recht geben. Jolenes Ausdruck sieht eher aus, als wäre sie erschöpft, nicht aber wütend.
Nochmals nimmt sie einen Schluck von ihrem Bier, ehe sie Morgan berichtet, welchen Disput sie gerade mit ihrer Mutter hatte, und auch, worum es dabei ging.
»Süß«, kommentiert Morgan die Erzählung und schmunzelt humorlos, »aber du musst mich nicht verteidigen. Mir ist egal, was der letzte Rest unserer Sippe von mir hält.«
»Mir stößt es wirklich bitter auf, wie immer noch von dir und deiner Mutter geredet wird, obwohl jeder weiß, was passiert ist.«
Wieder zuckt Morgan nur mit den Schultern und zeigt ihre Gleichgültigkeit darüber.

»Wenn wir schon beim Thema sind«, beginnt sie nach einem Moment, den wir alle geschwiegen und einander angesehen haben. Aus ihrer Geldbörse fischt sie etwas heraus und legt es vor Jolene auf die Kochinsel.
Während diese das Papier auseinander faltet und liest, was darauf geschrieben steht, trinkt Morgan an ihrem Bier und beobachtet ihre Cousine dabei.
Jolenes Augen weiten sich, aber ich kann nicht erkennen, ob sie geschockt, verwundert oder überrascht sind.
»Wann hast du ihn bekommen?«, hakt sie nach und sieht Morgan an, während sie mir das Schriftstück übergibt, damit ich es auch lesen kann.
Auch ich reagiere überrascht, als ich sehe, was das ist: Ein Brief von Benji.
Darin äußert er nach etlichen Zeilen der Entschuldigung seinen Wunsch, Kontakt zu Morgan haben zu wollen.
»Keine Ahnung. Vor drei Wochen?« Ahnungslos zuckt Morgan mit den Schultern.
Plötzlich stellt Jolene ihre Flasche ab, geht zum Wohnzimmerschrank und holt aus diesem etwas heraus, das sie anschließend ebenfalls auf die Kochinsel legt.
Jetzt ist es Morgan, die überrascht dreinblickt, als sie sieht, was es ist. »Dir hat er auch geschrieben?«
»Etwa um Thanksgiving herum«, antwortet Jolene nickend.
»Wieso hast du mir davon nichts erzählt?«, frage ich geschockt, weil das auch für mich etwas Neues ist. Nie hat sie erwähnt, von diesem Benji einen Brief bekommen zu haben.
Mit einem leichten Schmunzeln kommt sie zu mir. »Weil ich nicht wollte, dass etwas unsere Freude trübt«, antwortet sie und legt bedeutungsvoll ihre Hand auf meinen Bauch, während sie mir tief in die Augen sieht und mir anschließend einen liebevollen Kuss schenkt.
»Habe ihn nie aufgemacht«, spricht sie an Morgan gewandt. »Keine Ahnung also, ob er mir das Gleiche schrieb.«
»Weiß Amber davon?«, will ich von den beiden wissen.
»Nein«, antworten sie im Chor.
»Aber sollte sie das nicht wissen?«, hakte ich überrascht nach. »Immerhin ist er Teil des Prozesses, der noch aussteht. Darf er überhaupt Kontakt zu euch aufnehmen?«
Beide sehen sich kurz an, ehe sie mit ihren Schultern zucken.
»Er ist ja auch bloß ein Zeuge in diesem Prozess und kein Angeklagter ...«, gibt Jolene nachdenklich von sich. »Wundert mich, dass er noch nicht vor unseren Türen stand, obwohl er offensichtlich unsere Adressen kennt.« Sichtlich unzufrieden über diese Tatsache, nimmt sie einen weiteren Schluck ihres Bieres.
»Vielleicht hat er ja auch so ein Fußfessel-Ding, das ihm nicht erlaubt einen gewissen Radius zu verlassen«, frotzelt Morgan.
»Gut möglich«, stimmt Jolene zu. »Nichts, das Amber nicht herausfinden könnte.« Mit einem Schnaufen schiebt sie die Briefe zur Seite, als wolle sie dazu Abstand haben.

Jolene (+Family)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt