Numero Uno

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Für einige Momente scheint die Welt stehengeblieben. Hektisch mustern meine Augen im letzten Tageslicht, das Erscheinungsbild, der jungen Dame vor mir. Sie scheint in meinem Alter zu sein, ist definitiv kleiner als ich und ihre dunklen Locken sind locker nach hinten gesteckt, wobei ihr ein besonders widerspenstiges Exemplar weiter in die Stirn fällt.

 Ich konzentriere mich, wieder auf das Gesicht meiner neuen Bekanntschaft, entdecke einen kleinen Ring an ihrer Nase, die sich vor Wut hektisch aufbläht. Ihre Mimik ist  verzogen und wenn sie es könnte, würde sie sicher Blitze mit ihren Augen auf mich schießen und mit ihren in die Hüfte gestemmten Händen, macht sie dem Verhalten meiner Mutter Konkurrenz, wenn ich früher mit meinen dreckigen Schuhen durch die Wohnung gelaufen bin.

„Sag mal hast du sie nicht mehr alle", blökt sie mich in höflicher, italienischer Manier fuchtsteufelswild an und zeigt mit einer ausladenden Geste auf die Blätter vor uns.

„Es tut mir leid-", will ich mich ehrlich erschrocken entschuldigen, doch mit einem bösen Zischen fällt sie mir sofort ins Wort:

„Hast du keine Augen im Kopf, du Idiot!"

„Eyy", beschwere auch ich mich jetzt aufgebracht.

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass du mit deinen Umzugskartons direkt um die Ecke nur darauf wartest endlich umgerannt zu werden."

„Du Arschloch", faucht sie mich nur noch wütend an, bevor sie sich nach unten beugt und anfängt den ersten der Kartons wieder einzuräumen.

Kurz verharre ich an meiner Position, atme einmal tief durch, dann beuge ich mich schließlich nach unten, schnappe mir eine weitere Kiste und fange an, die windschief in Zeitungspapier verpackten Teile einzuräumen. Schweigend haben wir uns wohl geeinigt, dass ich mich um die kleinen Päckchen kümmere, während die mir unbekannte Frau fein säuberlich ihre Papiere einstapelt.

Ich bin schneller als sie und greife nach dem dritten und letzten flachen Karton, um auch noch die kreuz und quer verteilten Papiere einzuräumen. Stumm greife ich nach einem merkwürdig schweren Blatt, welches durch den Sturz wohl auf die Rückseite gedreht wurde und drehe es in meiner Neugier um.

„Das ist ja eine Zeichnung!", murmle ich verblüfft, die extrem gute Bleistiftzeichnung des Kolosseums bewundernd.

„Blitzmerker", murmelt die Schwarzhaarige nur schlecht gelaunt und reißt mir förmlich den flachen Karton aus der Hand, um die restlichen Blätter selber zu verstauen. Immer noch perplex starre ich weiterhin auf die Zeichnung in meiner Hand.

„Hast du das gemalt?", frage ich neugierig.

„Vielleicht", kommt prompt ihre kurzangebundene Antwort, während sie routiniert ein Blatt nach dem nächsten einschichtet. Auch dabei scheint es sich um Zeichnungen zu handeln, aber die junge Frau arbeitet so schnell, dass ich nicht mehr als einen kurzen Blick darauf erhaschen kann.

„Das ist ein wahres Kunstwerk, du kannst toll malen", mache ich ihr ein Kompliment, was sie nur mit einem Schnauben abtut.

„Hoffentlich will das noch jemand kaufen, nach dem sich nun auch der Dreck Roms auf meinen Werken verewigt hat", murrt sie pessimistisch.

„Das sind alles Werke von dir?", blicke ich auf den mittlerweile gut gefüllten Karton vor mir.

„Ja, sind es und wenn du mich entschuldigen würdest, ich wäre sehr erfreut, diese heute noch zu Geld machen zu können."

Mit diesen Worten rappelt sich die junge Frau auf und scheint drauf und dran ihre Last wieder zu schultern und ihren Weg fortzusetzen. Doch etwas an ihr und ihrer Art fasziniert mich, vielleicht ist es nur mein schlechtes Gewissen, oder einfach die Freude mal nicht direkt erkannt und nach einem Foto gefragt zu werden, dass ich sie einfach nicht gehen lassen kann.

Accusa Ingiusta (Ethan Torchio | Måneskin) ✅️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt