Numero Cinquantacinque

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Cara P.O.V

Die nächsten Tage erlebe ich wie im Rausch. Hatte ich direkt nach Ethans Abgang noch an ein großes Missverständnis und eine Überreaktion von ihm geglaubt, wurde mir erst nach und nach die Endgültigkeit seiner Handlungen bewusst. Verzweifelt hatte ich ihm direkt danach geschrieben und ihn angerufen, in der Hoffnung noch einmal mit ihm über alles sprechen zu können, aber jede Nachricht und jeder Anruf wurde von ihm eiskalt ignoriert.

Die Trennung von Ethan war wie ein riesiger Schlag ins Gesicht für mich und es ist nur Alessias liebevoller Führsorge und Pflege zu verdanken, dass ich mittlerweile, gut eine Woche später, nach dem Erlebten nicht mehr ein ganz so instabiles Wrack bin. Während der vergangenen Tage war ich immer wieder vermeintlich grundlos in Tränen ausgebrochen und konnte mich kaum beruhigen.

Jede Kleinigkeit, angefangen von meinem Hintergrundbild auf meinem Handy, wo Ethan zu sehen ist, bis zu dem großen schwarzen Shirt von ihm, welches ich in meinem Schrank gefunden habe und immer noch leicht nach ihm riecht – alles erinnert mich an ihn.

„Geht's?", fragt mich Alessia mitfühlend, während wir beide zusammen zum Bus laufen. Zum ersten Mal seit Ethans verherrenden Besuch bei uns, besuche ich die Universität, die letzten Tage konnte ich mich einfach nicht dazu aufraffen.

Nur noch ein dezentes bläuliches Schimmern unter meinem Auge erinnert an mein unschönes Veilchen, doch je mehr meine Verletzung verschwindet, umso mehr habe ich das Gefühl, das damit auch eine der Erinnerungen an Ethan aus meinem Leben verschwindet. Noch ein paar Tage dann wird die Verletzung komplett verheilt sein und keiner wird mehr erahnen können, was alles an diesem Abend passiert ist.

Weder die schöne Zeit, die ich mit Ethan und den Anderen auf der Tanzfläche hatte, als auch das mehr als unglückliche Ende, alles wird aus meinem Leben ausradiert, als ob es nie stattgefunden hätte.

„Ja, es geht schon", antworte ich meiner Freundin verspätet, wobei ich mich konzentrieren muss, alle weiteren Gedanken an Ethan zu unterbinden, damit sich nicht direkt wieder Tränen in meinen Augen sammeln. Alessia wirft mir einen letzten, skeptischen Blick zu, der mir nur zugut zeigt, dass sie mir kein Wort glaubt und ich in meinem schwarzen Outfit immer noch wie ein riesiger Trauerkloß aussehe, aber sie hält sich zum Glück mit einem Kommentar zurück.

Der Tag in der Uni schleppt sich so dahin und ich bemühe mich wirklich, bei den Vorlesungen genau zuzuhören und viel mitzuschreiben, um so das Gedankenkarussel in meinem Kopf zu unterbinden.

Doch wirkliche Linderung verschafft mir erst der Nachmittag: Ich habe mich für einen Besuch in unserem universitätsinternen Kunstatelier angemeldet und tatsächlich noch einen freien Platz ergattern können. Die anderen anwesenden Studenten sind mir glücklicherweise kaum bekannt und die Aufsichtsperson lässt mich komplett in Ruhe. So kann ich einfach meine Kopfhörer aufsetzen und ein wenig klassische Musik meine Ohren beschallen lassen. Ich schalte meine Außenwelt komplett ab und fokussiere mich einfach nur auf die aktuell noch leere, weiße Leinwand vor mir. Routiniert greife ich nach der bereits bereit gelegten Farbpalette, wo schon ein paar Ölfarben angemischt wurden. Und dann lege ich einfach los.

Ich lasse mich von meinem Inneren leiten und folge meiner Intuition. Immer schneller werden meine Striche, ich mische und verbessere, male und verwische und lasse mich nicht beirren. Die Musik aus meinen Kopfhörern schalte ich zwischendurch immer ein wenig lauter und wippe mit meiner Fußspitze unrythmisch mit, während ich meine Miene konzentriert verzogen habe.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ich schließlich schwer atmend meinen Pinsel beiseitelege und vorsichtig einen Schritt zurück trete. Vorsichtig nehme ich die Kopfhörer aus meinen Ohren, ehe ich mein Kunstwerk einmal eindringlich mustere. Vor mir erstreckt sich eine dunkle, fast schon mystische und äußerst Karge Landschaft, die insbesondere durch ihre kahlen Bäume, deren Äste schon sehr an Skeletts erinnern, hervorsticht. In der Mitte habe ich auf einer steinartigen Erhöhung den Schatten einer Frau gezeichnet, deren Blick gen Himmel gerichtet ist.

Accusa Ingiusta (Ethan Torchio | Måneskin) ✅️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt