Die Geschichte der Flamels

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Am nächsten Morgen saß Cat im ersten Zug, der von London nach Paris fuhr. Sie hatte das Haus bereits um sechs Uhr verlassen, ohne ihre Eltern zu wecken. Es war ohnehin besser, wenn niemand wusste, wo sie hingehen würde, auch wenn sie das im Grunde selbst nicht wusste. Sie hatte den Beiden eine Nachricht hinterlassen, dass es ihr gut ging und sie einen Unterschlupf gefunden hatte. Dann hatte sie erneut die Gestalt ihrer Tante Margaret angenommen und war verschwunden. Erst als sie um einige Ecken gebogen war, bewusst einen Umweg gemacht hatte und sich in einer dunklen Gasse befand, wagte sie es wieder, sich zurückzuverwandeln.

Also war sie in die Stadt gefahren, hatte sich dort mit ihrem übrigen Muggeltaschengeld ein Ticket gekauft und die Insel verlassen. Die Zugfahrt dauerte etwa zwei Stunden und siebenunddreißig Minuten, welche die Gryffindor damit verbrachte, in ihrem Buch über Elementarmagie zu lesen. Mittlerweile hatte sie sich einen üppigen Haufen an Wissen über diese Gabe angeeignet, so wusste sie nun beispielsweise, dass die Elemente keine Wirkung im Kampf gegen dunkle Magie zeigen würden – nicht gerade eine beruhigende Nachricht in Anbetracht der Tatsache, dass ihre Gegner ausnahmslos dunkle Zauberer waren, aber es erklärte zumindest, warum ihre Magie nicht gegen den Fluch geholfen hatte, mit dem Katie Bell im Oktober letzten Jahres durch das Halsband belegt wurde.

Sie waren bereits auf französischem Festland, als Cat die Ausgabe von ‚Die Grenzen der Elementarmagie' zuschlug und sie in ihrem Rucksack verstaute. Der Muggel, der ihr gegenübersaß, hatte schon einige Male verstohlen auf die Seiten des alten Buches geblickt. Sie vermutete zwar, dass er Franzose war, da er mit einem erkennbaren Akzent gesprochen hatte, als seine Fahrkarte kontrolliert wurde, doch die bewegten Bilder in ihrem Buch wären in jeder Sprache unerklärlich. Stattdessen verbrachte sie die letzten Minuten damit, Musik auf ihrem Walkman zu hören und verträumt aus dem Fenster zu sehen. Felder, Flüsse und Straßen rauschten an ihrem Fenster vorbei und verschwanden wieder, sodass sie kaum einen bleibenden Eindruck hinterließen. Hin und wieder hielt der Schnellzug in einer der größeren Städte, dann kam Tumult im Zug auf, doch die Gryffindor ignorierte es, bis wieder Ruhe eingekehrt war.

Endlich fuhr der Zug in Paris Nord ein. Cat packte geduldig ihre Habseligkeiten zusammen, ließ sich dabei besonders viel Zeit und stieg als eine der Letzten aus. Im Bahnhof herrschte reges Treiben und es war beinahe unmöglich, einzelne Personen länger als eine Sekunde zu beobachten. Dennoch sah sich die Blonde im Gehen immer wieder unauffällig um, um sicher zu gehen, dass ihr auch wirklich niemand gefolgt war. Als sie aus der großen Eingangshalle ins Freie der Stadt trat, war sie sich sicher, dass sie allein nach Paris gekommen war. Aus ihrer Hosentasche zog sie das Visitenkärtchen, auf dem der kleine Pfeil immer noch leuchtete. Sie drehte das Papier in der Hand hin und her, um eine Richtung zu erkennen und lief dann einfach los. Sie wusste nicht einmal, ob sie in Paris richtig war, der Pfeil könnte genauso gut gen Marseille weisen, die Richtung wäre dieselbe. Aber sie hatte so ein Gefühl, dass sie hier richtig sein würde.

So lief die Gryffindor durch die vollen und lauten Straßen der Stadt. Es war etwa neun Uhr, die Rush Hour war also noch in vollem Gange und so hielt sich das Mädchen an die engen Seitengassen, die abseits der Metro-Strecken lagen. Es war ein kühler Tag, der Himmel war mit dunkeln Regenwolken verhangen und es sah aus, als könnte jeden Augenblick ein Schutt auf sie hinunterkommen. Doch das Mädchen hatte nur Augen für die kleine Karte in ihrer Hand, die eifrig die Richtungen wechselte, wenn sie in eine andere Straße einbog. Schließlich kam sie in eine kleine Gasse, die für den Verkehr gesperrt war, vermutlich, weil sie schlichtweg zu eng war. Die Häuser standen keine zwei Meter voneinander entfernt und betteten die Gasse somit in ein düsteres Licht, das keine Sonnenstrahlen erreichte. Cat ging etwas tiefer hinein. Es behagte ihr nicht sonderlich. Hier war keine Menschenseele, niemand, der ihr helfen könnte.

Plötzlich fiel ihr ein kleines, aus Holz geformtes Schild auf, das mit einer Metallstange an einem der Häuser angebracht worden war. Es schwang in der leichten Brise, die durch die Gasse strömte, und quietschte dabei angestrengt. Doch das Zeichen, das darin eingraviert war, schien noch so farbenfroh zu strahlen wie an dem Tag, an dem es angebracht wurde. Und es hatte verblüffende Ähnlichkeit mit dem Ding in ihrer Hand. Noch einmal prüfte sie die Visitenkarte. Kein Zweifel, es war dasselbe Zeichen, dieselbe einzigartige Darstellung eines Pfeils. Auf der Karte deutete er nun exakt auf die Tür, die einige Treppenstufen erhöht lag. Cat steckte die Karte wieder in ihre Hosentasche und musterte das Haus genauestens. Es war alt, um nicht zu sagen baufällig. Der Stein, aus dem es geformt war, bröselte schon an einigen Stellen ab. Schmutz hatte die Wände vereinzelt schwarz gefärbt und die braune Holztüre sah aus, als würde sie beim nächsten Windhauch zerbersten.

Die Geschichte von Catherine O'NeillWo Geschichten leben. Entdecke jetzt