Das Training hatte schneller begonnen als Cat gehofft hatte. Bereits am nächsten Morgen hatten die Flamels sie bei Sonnenaufgang aus dem provisorischen Gästebett, das nicht mehr als eine dünne Matratze auf dem kalten Boden des Wohnzimmers war, gescheucht. Nach einem schnellen Frühstück waren sie und Perenelle mit der Metro aus der Stadt gefahren. In einem Vorort von Paris waren sie in den Bus umgestiegen. Mit jeder Haltestelle, die sie weiter gefahren waren, waren immer mehr Leute ausgestiegen, bis sie schließlich die einzigen Personen gewesen waren. An der allerletzten Haltestelle waren sie dann ausgestiegen. Die gesamte Fahrt über hatte die schwarzhaarige Frau geschwiegen und auch am Abend zuvor hatte sie nur das Nötigste mit ihrer neuen Schülerin gesprochen. Cat kam es so vor, als hatte Perenelle gar kein Interesse an ihr oder ihrer Ausbildung. Ob es wohl nur ein Gefallen war, den sie Dumbledore schuldete? Ein letzter Gefallen, bevor sie sich ihrem wohlverdienten Frieden hingab? Ob sie von Cats plötzlichem Auftauchen so überrumpelt war, dass sie schlichtweg nicht wusste, was sie sagen sollte?
Die Blonde wusste es nicht. Doch eines stand fest. Das Leben hatte diese Frau gekennzeichnet. Und sie hatte ein sehr langes Leben geführt. Bei genauerem Hinsehen erkannte die Gryffindor feine Narben, die sich über das Gesicht der Schwarzhaarigen zogen. Es war schwer, sie von den Falten zu unterscheiden, die sich besonders um ihre Augen und den Mund legten. Doch die Narben hatten einen helleren Hautton, wenn auch so schwach, dass es genauso gut eine Illusion hätte sein können. Der Rest ihrer Haut war leicht gebräunt wie die eines Bauern auf seinem Feld. Allerdings waren ihre Arme und Beine weit schwächlicher, nahezu gebrechlich.
Die beiden Frauen liefen nun schon eine Weile den spärlich befestigten Feldweg entlang, der sie aus dem Dorf, in dem ihr Bus gehalten hatte, zu einer kleinen, roten Scheune neben einem Weizenfeld führte. Es war nicht so, dass die Scheune heruntergekommen war, sie war schlichtweg in die Jahre gekommen. Die Farbe blätterte von einigen Stellen bereits ab und das Tor hing schief in den Angeln. Daneben hing ein angerostetes Schild mit der Aufschrift ‚propriété de la famille Fleming'.
„Sie wollen hier trainieren? Was ist, wenn der Besitzer herkommt?", fragte Cat nach einer Weile.
Ihre Lehrerin zog den Mundwinkel nach oben. „Nick Fleming ist der Alias meines Mannes. Dieses Feld einschließlich der Scheune gehört uns bereits seit mehr als zweihundert Jahren. Außerdem liegen zahlreiche Schutzzauber auf dem Feld. Es wird uns also niemand belästigen."
Die Gryffindor nickte verstehend. Es ergab Sinn, dass die Flamels sich über die Jahrhunderte hinweg neue Identitäten zugelegt hatten. Selbst in der Zaubererwelt war Unsterblichkeit ein gefährliches Unterfangen.
„Bevor wir mit dem anfangen, weswegen du eigentlich hier bist, möchte ich erst sehen, wie ausgeprägt deine Fähigkeiten in der Elementarmagie sind", erklärte Perenelle, während sie neben dem Mädchen herging und tiefer in das Weizen hineinlief. Sie schob die Weizenähren sanft beiseite, sodass sie hintereinander hindurchlaufen konnten. Nach einer Weile traten sie auf eine kleine Lichtung inmitten des Feldes. Die Lichtung war kreisrund und hatte einen Durchmesser von maximal fünf Metern. Cat sah sich um und erkannte, dass sie geschützt vor den Blicken Neugieriger, die sich vielleicht in die Nähe der alten Scheune trauten, lag. „Der Weizen hier hat schon lange kein Wasser mehr gesehen. Der Sommer war trocken und bei Weitem nicht so warm, wie ich es mir erhofft hatte."
Cat verstand den Wink sofort. Sie nickte ihrer Lehrerin freundlich zu und begann ihre Arbeit. Es war eine einfache Beschwörung. Sie brauchte nicht einmal die Augen zu schließen. Sie streckte die Arme vor ihrem Körper aus, sodass die Handflächen nach oben geöffnet waren und machte ein paar kreisende Bewegungen, stellte sich vor, wie sie eine flauschige, triefnasse Wolke formte. Es wurde dunkel über der kleinen Lichtung. Mit einem Blick nach oben erkannte sie die schwarze Wolkendecke, die sich wie von Zauberhand über dem gesamten Feld gebildet hatte. Irgendwann drehte Cat die Handflächen gen Boden und begann elegant mit den Fingern zu wackeln, als würde sie die Tasten eines Klaviers anschlagen. Das Wasser kämpfte nicht länger gegen die Schwerkraft an, einzelne Tropfen rissen sich aus der Wolke heraus und fielen auf das Feld. Aus einem wurden schnell einhundert und noch einige mehr.
Das kalte Wasser tropfte ihr auf den blonden Haarschopf. Mit der rechten Hand wiederholte sie die elegante Fingerbewegung immer wieder, während ihre linke sich zu einer Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger formte. Diesen drehte sie ein paarmal schnell im Kreis, wobei sie tief Luft holte und diese mit aller Kraft ausstieß. Der Wind, der nun auf der Lichtung aufkam blies Perenelle die Haare ins Gesicht, woraufhin sie kurz enerviert schnaubte, doch immerhin trieb er die Wassertropfen von den beiden Frauen weg. Nachdem der Boden unter ihren Füßen die Feuchtigkeit aufgenommen hatte, beendete Cat den Schauer ebenso schnell wie sie ihn heraufbeschworen hatte. Die dunkeln Wolken verzogen sich und die kühle Septembersonne kroch hervor.
„Nicht schlecht für den Anfang", lobte Perenelle zögerlich. „Jetzt lass den Weizen doch auch noch etwas wachsen. Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch damit anfangen, ihn zu ernten."
Also kniete sich die Blonde auf den Boden und legte ihre rechte Hand auf den staubigen Untergrund. Sie ließ etwas Energie durch ihren Arm strömen, spürte, wie sie durch ihre Fingerspitzen in die Erde eindrang und sich elegant um das Wurzelwerk jeder einzelnen Pflanze wickelte. Dann wuchsen sie, stoben in die Höhe und ihr Schatten legte sich etwas mehr über die Lichtung. Cat schloss die linke Hand zur Faust, öffnete sie schnell wieder, sodass eine kleine Flamme in ihrem Handballen entstand. Sie blies sie beherzt an. Ein feiner Feuerstrahl schoss auf die Pflanzen, die am nächsten an der Lichtung standen, zu und durchschnitt ihre Halme knapp oberhalb der Erde. Die Stelle färbte sich pechschwarz. Eine Sekunde später knickten sie um. Der Wind, den die Blonde mit ihrer linken Hand dirigierte, tat sein Übriges, um die Ähren feinsäuberlich zu einem Haufen aufzustapeln.
„Sehr schön." Die Zauberin nickte zufrieden.
„Nichts für Ungut, Madame Perenelle, aber ich glaube, Sie unterschätzen, was ich bereits gelernt habe", meinte die Gryffindor vorsichtig.
„Du willst eine Herausforderung?", wiederholte Perenelle, wobei sich ihre rechte Augenbraue nach oben zog. Sie ließ den Kopf ein paarmal hin und her kreisen, um ihre Nackenmuskulatur zu entspannen, dann stellte sie sich schulterbreit auf und ging leicht in die Knie. Die Arme hob sie auf Brusthöhe vor den Körper, ihre Handflächen waren leicht gekrümmt und zeigten nach oben. Dann fixierte sie die Blonde mit einem angriffslustigen Blick. Als sie bereit war, glaubte Cat, ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen, ganz so als würde sie Vorfreude auf den Kampf empfinden. „Also gut. Greif mich an."
Ein freudloses Lachen entsprach Cats Kehle, dann schüttelte sie den Kopf und wank ab. „Nein, ich werde nicht gegen Sie kämpfen."
„Hast du Angst, dass eine alte Frau dich schlagen könnte?", spottete die Zauberin.
Die Blonde zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe und musterte ihre Lehrerin von oben bis unten. Sie machte keine Anstalten, die unbequeme Kampfhaltung aufzulösen. Stattdessen ging sie noch etwas tiefer in die Knie, um besseren Halt im staubigen Boden zu finden. Die stumme Aufforderung folgte, indem sie das Mädchen mit der rechten Hand zu sich wank.
Also gut. Sollte das zu irgendeiner sonderbaren Lehrpraktik gehören, wollte Cat nicht ausweichen. Und wenn es ihre Chance war, der Zauberin zu zeigen, dass sie stark und intelligent genug war, um die wichtigen Dinge zu lernen, dann würde sie auch vor einem Kampf nicht zurückschrecken. Also atmete sie einmal tief durch und hob die Hände wie ihre Mentor vor ihren Körper. Sofort sprossen die Flammen aus ihren Fingerspitzen und loderten hoch auf. Augenblicklich wurde ihr warm, die Energie kribbelte und pulsierte durch ihren Körper und berauschte sie. Fest blies sie auf ihre brennenden Finger. Die Flammen stoben Perenelle entgegen, kamen gefährlich nah an ihr lockiges Haar, doch sie zuckte keinen Millimeter zurück.
Stattdessen entglitt ein schrilles Lachen ihrer Kehle. „Soll mich das etwa einschüchtern?", fragte sie spöttisch. In einer flüssigen Bewegung spreizte sie die Finger und breitete die Arme neben ihrem Körper aus, als würde sie die Absolution Gottes erwarten. Doch was geschah, war mächtiger als das. Das Wasser, mit dem Cat zuvor noch das verdorrte Feld bewässert hatte, stieg in großen, balligen Tropfen empor und schwebte in einer großen Kugel um die Zauberin herum. Sie schob die Arme nach vorne und sofort gehorchte das Wasser. Im Flug formten sich die Tropfen zu einem großen Ball und ergossen sich eiskalt über die Finger des Mädchens. Das Feuer in ihrer Hand erlosch.
Ungläubig sah Cat auf ihre Hände hinab. Sie waren feucht, das Wasser dampfte noch von ihren Fingerspitzen ab. Sie ballte die Hände zu Fäusten, nur um sie schnell wieder zu spreizen. Eine gewohnte Geste, die es ihr erlaubte, schnell auf die Flamme zurückzugreifen. Aber dieses Mal geschah nichts. Erneut wiederholte sie die Bewegung, einmal, zweimal, viermal. Doch das Feuer versagte ihr die Gefolgschaft. Wut kochte in ihr auf, sie spürte das Prickeln in ihrem Nacken und jetzt, da sie wusste, was die Machtsymbole waren, hatte sie das Gefühl, die Feuerspirale würde mit ihr sprechen, kleine Befehle flüstern. Cat dachte nicht länger nach und gehorchte ganz ihren Instinkten. Beim nächsten Wimpernaufschlag glühten ihre Augen tiefrot. Sie holte mit der linken Hand aus, ging schnell in die Knie und schlug mit der flachen Hand auf den staubigen Boden der Lichtung. Eine Flamme loderte hoch auf und schlug auf jeden Grashalm, den sie zu fassen bekam, über. Wie bei einer Zündschnur wanderte das Feuer nach außen und breitete sich aus, sodass sich die beiden Frauen binnen weniger Sekunden in einem Gefängnis aus meterhohen Feuerwänden befanden.
Perenelle ließ den Blick nicht kreisen. Das Feuer kümmerte sie nicht besonders. Das Mädchen war es, was sie brennend interessierte. Ihre Augen waren nicht mehr als rote Scheiben, ihr Blick leer, die Wangenknochen traten bedrohlich hervor. Die Zauberin zögerte nicht länger und setzte zum Angriff an. Ihre Finger gruben sich in die Erde und verbanden sich durch die Energie mit den Pflanzen. Erde war immer ihr Element gewesen. Gutmütig und rein. Unter ihren Füßen begann es zu beben, dann stoben die Wurzeln empor und schlangen sich wie wilde Tiere um die Knöchel und Arme der Blonden.
Sie zog ruckartig die Hände zurück, doch die Pflanzen gaben nicht nach. Sie spürte, wie Perenelles Energie durch die Wurzeln pulsierte. Ein berauschendes Gefühl, machtvoll und kräftig. Beinahe musste sie schmunzeln, wenn ihre Lehrerin dachte, dass dieser einfache Trick, sie aufhalten könnte. Anstatt gegen die Erdmagie anzukämpfen, packte sie das Wurzelwerk mit der Hand. Das Feuer entflammte sich erneut und sprang auf die Pflanze über. Cat hatte das Gefühl, als würde sie sich unter der Hitze winden, sie zog sich etwas fester zusammen. Doch nach ein paar Sekunden war sie ganz starr und warm. Im Licht des Feuers erkannte sie die rußartige Farbe. Mit einem Ruck erhob sie sich vom Boden. Die Schlinge um ihren Arm zerbrach, als wäre sie aus Glas.
Perenelles Augen verengten sich zu Schlitzen. Hatten ihre Kräfte in all der langen Zeit nachgelassen? Sie schüttelte leicht mit dem Kopf. Nein, das war es nicht. Sie hatte in all den Jahren nie Probleme gehabt, sie und ihren Mann mit der Elementarmagie in der Zeit zurückzubringen oder ihre Körper am Morgen zu erneuern. Was war also anders? Das Mädchen war es. Doch so schnell würde Perenelle sich nicht besiegen lassen. Sie setzte zum Sprint an. Ihre schwarze Mähne tanzte um ihre Schultern, dann funkelten ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde tiefgrün auf. Die Zauberin sprang.
Im selben Augenblick schossen die Wurzeln in die Höhe und positionierten sich perfekt unter ihren Füßen. Mit jedem Sprung stieg sie etwas weiter in die Höhe und die Pflanzen fanden jedes Mal ihr Ziel unter ihren Füßen, wenn sie zu einem neuen Sprung ansetzte. Cat legte den Kopf in den Nacken und sah ihr ein paar Sekunden fasziniert nach. Wind umströmte ihren Körper und erinnerte sie an ihr Training. Einen Augenblick lang zögerte sie. Bislang hatte sie es nur einmal erfolgreich geschafft und das auch nur für wenige Sekunden – für ein paar Zentimeter über dem Boden.
Sie schob die Zweifel beiseite. Stattdessen stemmte sie die Arme eng an ihren Körper. Ihre Hände winkelte sie so an, dass die Handflächen gen Boden zeigten. Dann ließ sie die Energie in ihre Arme fließen. Ein Luftstrom entstand unter ihren Händen, wirbelte kühl um sie herum. Als sie die Augen wieder aufschlug, waren an die Stelle ihrer Pupillen silberne Scheiben getreten. Von ihrer Hand ging eine Druckwelle aus, die sie in die Luft katapultierte. Die Blonde war selbst erschrocken darüber, strauchelte ein paar Sekunden unbeholfen mit den Armen, bis sie die Kontrolle wiederfand und herausgefunden hatte, wie sie am besten manövrierte. Es kostete sie unheimlich viel Konzentration, die Luft unter ihren Händen und Füßen so zu verdichten, dass sie sich darauf bewegen konnte wie auf dem Boden. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Als sie nach unten sah, sackte ihr Herz in ihren Magen ab. War sie wirklich schon so hoch gestiegen?
Als sie auf Perenelles Höhe angekommen war, erwartete diese sie bereits geduldig. Der Wind pfiff so weit über dem Boden deutlich stärker. Die Zauberin war sich nicht sicher, ob ihre Gänsehaut von der Kälte kam oder eher von der elektrisierenden Energie in der Luft. „Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt", sagte sie an ihre Schülerin gewandt.
„Geben Sie etwa schon auf?", erwiderte die Blonde und grinste provokant.
Perenelle zog die rechte Augenbraue in die Höhe, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. Sie löste die verschränkten Arme, dann schnipste sie mit den Fingern der rechten Hand. Auf ihren Befehl hin stob eine meterhohe Flamme direkt unter Cats Füßen empor. Der Sauerstoff verbrannte binnen weniger Momente. Die verdichtete Luft verlor so schlagartig ihre Spannung und Cat verlor den Boden unter den Füßen. Sie fiel, raste auf den Boden zu. Und ihre Lehrerin sprang ihr hinterher. Die Blonde presste die Augen zusammen, erwartete den harten Aufprall. Doch stattdessen wurde ihr Körper von einem großen Haufen Weizenähren in Empfang genommen. Perenelle plumpste wenige Zentimeter von ihr entfernt ebenfalls in den Haufen. Ein befreites Lachen entsprang ihrer Kehle, während sie begann, die Ähren aus ihren struppigen Haar zu puhlen.
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Die Geschichte von Catherine O'Neill
FanficAls Catherine O'Neill in ihrem vierten Schuljahr wegen einem Jobangebot für ihren Vater nach England ziehen muss, ist sie zunächst nicht begeistert. Doch schnell findet die Muggelstämmige Anschluss in Hogwarts, besonders mit Harry Potter und seinen...