Kapitel 02 | 2 | Edited

392 27 1
                                    

K A P I T E L 02

2

„Einen Martiny, bitte", bestellte ich beim Kellner und klappte meinen Laptop auf.

Eine Weile starrte ich auf den Bildschirm. Erneut sprang mir der Text meiner Rede entgegen. Doch wieder konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich wusste nicht, ob ich wirklich nervös aufgrund der Rede war, oder aufgrund der Tatsache, dass Elliot Price und eine Reihe weiterer bekannter Namen sie zu hören bekam.

Ich holte mein Handy heraus und schrieb Leyla eine Nachricht. Der Inhalt, das Bild vom Wolkenmeer.

Leyla antwortete direkt. Sie schickte ein Selfie von sich auf unserer Couch mit unserem Kater Sparrow. Wie unterschiedlich wir doch waren, stellte ich fest. Leyla und ich, nicht Kater Sparrow und ich. Während Leyla die Menschen, die Aufmerksamkeit und den Trouble mied, suchte ich meist förmlich danach.

Ich steckte mein Handy zurück und schaute mich in der schicken Hotelbar um. Am Tresen zwei ältere Alphamännchen mit Bier in der Hand und junger Blondine im Arm.

Ansonsten saß eine Gruppe mittvierziger Frauen drei Tische weiter. Sie trugen schicke Kleidung, hatten gemachte Haare und schauten sich Papiere an, die sie vor sich auf den Tisch ausgelegt hatten und besprachen.

Ein Tisch weiter zwei Männer in meinem Alter. Mit ihren blonden Haaren, hellen Augen und ihren nördlichen, kantigen Gesichtern sahen sie aus wie Vikinger in Anzügen. Einer der beiden schien sich beobachtet zu fühlen, denn er schaute auf und mir direkt in die Augen.

Eine Weile starrte er mich an, während seine Begleitung ihm etwas zu erzählen schien. Er blickte schließlich hinab und wand sich wieder dem Gespräch zu. Immer wieder schaute er kurz herüber. Ich starrte zurück, lächelte und blickte dann wieder auf meinen Laptop.

Noch zwei, drei Mal und er würde mir auf dem Weg zum Badezimmer seine Zimmernummer auf einem Stück Serviette zuschieben. Doch die Lust ihn heute Abend zwischen meinen Bettlacken wiederzufinden hatte ich nicht wirklich. Er sah gut aus. Vielleicht würde es ein Fling im Aufzug werden.

Ich nippte an meinem Martiny und starrte auf meinen Bildschirm. Einen kurzen Moment zögerte ich, doch dann schloss ich meine Präsentation und öffnete stattdessen Ellaines Blog. Auf dem Header stand in kursiven Lettern „A very good girl".

Der letzte Artikel meiner Schwester war vor mehr als zehn Jahren verfasst worden.

Ich wählte wie immer den ersten Artikel an: 24. August 2012 – Ich bin Elaine, war der Titel.

Ich hatte es nie geschafft alle ihre Artikel zu lesen. Nicht weil es zu viele waren. Sondern weil sie mich wütend und traurig zu gleich stimmten. Es tat so verdammt weh, sie zu lesen.


Es ist seltsam etwas zu schreiben, was vermutlich nie einer lesen wird. Wer möchte dass auch schon? Wer möchte die Geschichte eines jungen Mädchen lesen, dass sich in dieser Welt nicht zugehörig fühlt? Was kann sie schon bieten, diese Geschichte?

Anders sein. Was bedeutet das? Interessante Worte findet ihr nicht? Anders als wer?

Ich trage kein Makeup. Ich trage auch keine Kleider. Ich hasse sie. Ich trage meine Haare kurz. Sie gehen mir bis zur Schulter. So kurz können sie eigentlich gar nicht sein, doch kurz genug, dass sich Menschen nicht sicher sind ob sie mich mit „Sie" oder „Er" ansprechen sollen.

Aber darum geht es nicht. Ich bin anders, weil andere Menschen es so sagen. Ich bin also die, die laut Definition Anderer und laut gesellschaftlichen Norm anders ist. Die, die keine Schminke trägt, kurze Haare hat und Skaten und Biken geht. Die die aus dem Raster fällt. Auf sämtlichen Ebenen. Es geht weit hinaus, über Banalitäten wie Haare und Kleidung.

Meine Skaterfreunde sind cool. Sie mögen mich. Sie finden meine weiten Hosen gut und sie mögen, dass ich lieber draußen unterwegs bin als mit den anderen Teenagern in Malls abzuhängen.

Schön solche Menschen zu haben. Sie helfen mich lebendig zu fühlen. Ich habe nichts dagegen anders zu sein. Meine Familie, meine Klassenkameraden, meine Lehrer sehen das anders.

Wo soll ich beginnen?

Vielleicht bei meiner Familie.


Ich hielt inne. Ich wollte die Worte nicht lesen, die Ellaine über mich und meine Familie niedergeschrieben hatte. Sichtbar für alle. Entblößend und doch so wahr.

Als ich schließlich aufschaute und den Laptop schloß, lag eine Serviette vor mir auf dem Tisch. Zimmer 211. Ich trank den letzten Schluck meines Martinys, klemmte mir den Laptop unter den Arm und verließ die Bar.

Ich stieg in den Aufzug. Er hielt nicht in meiner Etage.


„Melde dich, wenn du wieder in der Stadt bist", hauchte mir der Vikinger zu und fuhr sich versucht verführerisch durch die blonden Haare. Seine eisblauen Augen starrten einen kurzen Moment in meine. Heiß war es definitiv gewesen. Doch sobald er den Mund aufgemacht hatte, um mich mit seinem Erfolg als Banker zu imponieren, wusste ich, dass seine Bettakrobatik das Einzige war, was mich wirklich an diesem Abend interessieren würde.

„Ich denke nicht", antwortete ich, gab ihm einen letzten Kuss auf die Wange und schloss die Zimmertür hinter mir. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon weit nach Mitternacht war. Es war Zeit zwischen meine eigenen Laken zu versinken und so lief ich mit meinen Highheels in der einen und meiner Handtasche in der anderen über den roten Teppichboden zum Aufzug.

Zimmer mit Aussicht (I + II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt