Kapitel 07 | 1 | Edited

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K A P I T E L 07

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Die Uhrzeit, kurz nachdem der letzte Nacht-Schwärmer sich schlafen gelegt hat und die erste Morgenlärche vor dem Aufwachen war, hatte etwas besonderes an sich. Sie brachte eine Ruhe mit sich, die mir das Gefühl gab der einzige Mensch auf Erden zu sein. Ich war frei. So wie ich es gewesen war, als ich mit Elliot in seinem Hotelzimmer war. Doch dies war eine andere Art der Freiheit. Nun stand ich hier, am Fenster in meiner Wohnung, mit Kaffee in der Hand und blickte über die Dächer der Stadt. Ich, als Mensch der Chaos über Ordnung und Geräuschkulisse über Ruhe suchte, genoss es hier zu stehen, wissend darüber dass niemand da draußen irgendetwas von mir wollte. Außer vielleicht Kater Sparrow, der brummend auf dem Katzenbaum lag und sich in alle Richtungen reckte, während ich ihn kraulte. Doch abgesehen von ihm, hatte zu dieser Uhrzeit niemand Erwartungen, die es zu erfüllen galt. Vorallem hatte ich keine Erwartungen an mich.

Was für Erwartungen hätte ich auch haben sollen, nach einer solch schlaflosen Nacht. Ich grinste in mich hinein während vor meinen Augen E.P sein Hemd auszog.

Ich fragte mich, ob er, so wie auch ich, schlaflos umherstreunerte und die Ruhe genoss. Vermutlich saß er eher an seinem Laptop, beantwortete Mails und zog sich mit eckigen Augen die vierte Tasse Kaffee rein, wie ein Junkey der sich morgens um sechs sein Frankfurter Frühstück reinballerte, als gäbs kein Morgen mehr. Es war ihm nicht erlaubt, diese goldene Stunde für sich zu haben. Zumindest erlaubte er es sich nicht. Ich war mir sicher, denn ich kannte das Gefühl nur zu gut.

Ich blickte hinab in meinen Kaffee. Eine Illusion zu denken, dass mich dieser durch den ersten Tag des Jahres bringen würde. Ich schmunzelte.

Ich schritt vom Fenster in Richtung Kücheninsel. Mein Laptop mit leuchtendem Bildschirm war aufgeklappt. Das kleine rote Icon blinkte mich bedrohlich an. Achtundvierzig ungelesene Emails. Doch ich ignorierte sie. Stattdessen schaute ich auf die Worte dir schwarz auf weiß deutlich sichtbar ihre Aufmerksamkeit suchten. Lange war es her, dass ich ihren Blog aufgesucht hatte. Den letzten Artikel hatte ich in Oslo vor der Konferenz gelesen. Ich setzte mich auf den Barhocker und schwenkte meinen Kaffee in der Tasse umher. Kater Sparrow sprang auf die Theke und schaute mich aus seinen großen, dunklen Augen an.

„Na, war deine Nacht auch so wild wie meine?", fragte ich ihn grinsend und kraulte ihn hinter den Ohren. Sein Schnurren deutete ich als Zustimmung. Ich blickte wieder auf den Laptop hinab. Ich war müde. Doch schlafen konnte ich nicht. Ich war es ihr schuldig, auch wenn sie keine Erwartungen mehr an mich haben konnte.


Heute lag ich wieder mit Ellis und Erica auf dem Dach. Wir haben uns den Sonnenuntergang angeschaut. Manchmal bleiben wir lange liegen, bis in die Nacht. Wir verlieren uns in den Sternen. Ich frage mich, wie wir alle so unterschiedlich sein können, wo wir doch dieselben Eltern haben. Wenn ich Ellis und Erica anschaue, habe ich das Gefühl dass wir alle drei von unterschiedlichen Planeten stammen müssten.

Erica, das ist meine jüngste Schwester. Sie ist gerade mal Zehn. Ein Kind noch. Wir alle sind es noch. Doch mein Körper, die Gesellschaft, die Sendungen im Fernseher, all das gibt mir das Gefühl, ich sei keins mehr. So unschuldig wie Erica und Ellis es noch sind, so bin ich es anscheinend nicht mehr. Erica trug heute ein rotes Kleid. Mom hat ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Bunte Spangen mit Schmetterlingen sorgten dafür dass alles ordentlich zur Seite gesteckt war. Seit Wochen hängt sie Mom und Dad in den Ohren dass sie zu ihrem elften Geburtstag eine riesige Feier haben will. Sie wünscht sich dafür das Prinzessinen-Kleid, das wir letztens bei Target gesehen haben. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht ein anderes Motto nehmen will. Cowboys, Marvel, Ranger, irgendetwas cooles. Sie meinte, dass sei nur etwas für Jungs, das würden ihre Freundinnen nicht anziehen. Mom fand meinen Vorschlag total bescheuert. Mädchen im Marvel oder Cowboy Kostüm. Wir sind in Little Win nicht in Brighton. Das sei zu provokant.

Seht ihr, worauf ich hinaus will?

Ellis ist zwölf. Nicht viel jünger als ich, nicht viel älter als Erica. Ihr ist alles egal. Sie versteht nicht, dass etwas verkehrt, ist mit unserer Welt. Es interessiert sie einfach nicht. Ich habe sie letztens gefragt, warum sie unbedingt wie alle anderen in ihrer Klasse diese dämliche Lederjacke haben wollte. Nur weil alle sie haben? Weil es cool ist? Weil sie dazugehören wollte? Jetzt läuft sie rum, wie alle anderen. Kaum zu unterscheiden von den anderen Mitläufern in ihrer Klasse. Vermutlich auch nur weil irgendeine coole Chayenne auf die Idee kam, jetzt Lederjacke tragen zu müssen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin die Einzige, die es verstanden hat. Ich bin gerade einmal vierzehn. Warum versteh ich mehr von der Welt als meine Eltern? Als alle anderen Erwachsenen? Warum wollen sie alle immer gleich sein? Wie kann ich in einer solchen Welt ich selber sein und mich akzeptieren, wenn mir der Raum dafür nicht gegeben wird?

Ps. Ich habe mir letztens von meinem Taschengeld ein neues Skateboard gekauft.


Oh Elaine, dachte ich mir, du hast nicht mehr von der Welt verstanden. Die Welt war nicht so schwarz-weiß wie du es dachtest. Doch hattest du nie die Chance es selber zu erfahren. Zum ersten Mal ärgerte ich mich über die Worte meiner Schwester. Über ihre Naivität.

Ich klappte meinen Laptop zu und stand vom Barhocker auf. Langsam schritt ich durch den fast dunklen Raum zurück zum Fenster. Meine Augen brannten.

Als Teenager dachte ich die Welt drehe sich um mich. Mein Leben, das sich in einem Umkreis von vielleicht zehn Kilometern abspielte, war die einzige Realität, die ich kannte. Ich war kein freier Mensch. Ich reflektierte nicht. Ich verstand nicht. Ich war abhängig von den Taten anderer und Gefühle, die sie in mir auslösten. Ein intensiver Prozess.

Ich war so müde, doch ich war es ihr schuldig. Ich lief erneut zurück zur Kücheninsel, öffnete den Laptop und begann die Mails zu lesen. Sparrow schaute mich fast schon tadelnd an. Du kannst nicht die Welt retten, hörte ich Elaines Stimme in meinem Kopf.

„Aber ich kann sie ein bisschen besser machen", antwortete ich.

Zum ersten Mal seit Jahren, wünschte ich mir, jemand würde neben mir stehen, den Laptop zuklappen und mir sagen, dass es okay sei. Dass es okay sei, eine Pause zu machen.

Die erste Mail die ich öffnete war von meiner Kollegin Anja. Im Anhang ein Bild von mir, das auf der Konferenz gemacht worden war und ein weiterer Artikel der von Julia in einer Fachzeitschrift veröffentlicht hatte. Ich schnaufte auf, als ich die ersten Zeilen las. Sie wollte expandieren. In die USA. Wollte ihren Marktanteil auch in England, Deutschland und Skandinavien erhöhen. Plante eine intensive Social Media Strategie.

Frustriert schloss ich die Mail. Überrascht stellte ich fest, dass auch Sasha mir geschrieben hatte.

Denk an dich, frohes Neues, stand im Betreff. Im Anhang ein Bild von uns beiden auf der Neujahresfeier der achten Klasse. Mit Zahnspangen und Glitzerkleider grinsten wir in die Kamera. Unsere Haare mit Glätteisen und Haarspray gestylt. Sasha trug blauen Lidschatten und ich hatte eine dicke Schicht Makeup aufgetragen. Ich schmunzelte. Schloss meinen Laptop und ging ins Bett. Manchmal fehlte mir die unbeschwerte Zeit mit Sasha. 

Zimmer mit Aussicht (I + II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt