Kapitel 02 | 02

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K A P I T E L 02

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Meine Mutter tat selten etwas unvorhersehbares. Ihr Leben bestand aus Routinen und immer gleichen Konstanten. Am Montag war Waschtag. Am Dienstag und am Donnerstag fand der Bridge-Abend statt. Am Mittwoch Abend besuchte sie Granny. Am Freitag ging sie mit Sashas Mom in die örtliche Bäckerei um Tee zu trinken. Am Sonntag ging sie in die Kirche.

Neuerdings war Samstag wohl der "Ich fahre nach London und besuche Ellis"-Tag. Mit offenem Mund stand ich in der offenen Tür und starrte meine Mutter an, die neben Leyla am Küchentresen saß und Tee trank.

"Was machst du denn hier?", fragte ich und stellte die Einkaufstüte neben mir ab.

"Begrüßt man so seine Mutter?", fragte sie und legte die Stirn in Falten.

Ich starrte Leyla an. Die zuckte nur mit den Schultern und setzte sich auf einen Barhocker.

"Dein Vater ist auf einem Golfturnier und ich dachte mir, dass heute doch ein guter Moment wäre, ein wenig Zeit mit dir zu verbringen."

"Da haben Sie aber Glück, dass Ellis da ist. Die schwirrt sonst zwischen Arbeit und ihren sämtlichen L-"

"Danke Leyla, dass du meiner Mutter Gesellschaft geleistet hast!", fuhr ich Leyla ins Wort und schloss die Tür hinter mir. Langsam schälte ich mich aus meiner Jacke.

"Wirklich nett habt ihr es hier!", sagte meine Mutter. Sie fand es nicht nett. Zwei Mal war sie seit meinem Einzug hier gewesen. Das erste Mal hatte sie mit der Nase gerümpft und gesagt, dass ein seltsamer Geruch von den Wänden ausging, das zweite Mal hatte sie gemeint, dass eine solche Wohnung langfristig ungeeignet für Kinder sei. Daraufhin hatte sie mir erzählt, dass in der Nachbarschaft zwei Häuser frei geworden waren. Ideal für junge Familien. Wie schön diese Zeit doch damals gewesen war, als sie mit Vater und mir frisch eingezogen war. Drei musste ich gewesen sein. Das wusste sie noch, da ich Schwierigkeiten hatte die hohen Treppenstufen zur Haustür hochzulaufen.

"Ja es hat sich einiges getan, seit deinem letzten Besuch", sagte ich etwas unbeholfen und schob die Einkaufstasche über die Kücheninsel. "Leyla und ich wollten Brunchen. Ich gehe davon aus, dass du auch Rührei und Speck magst?"

"Iss ruhig, Liebes. Du bist wieder so dünn. Mir reicht der Tee."

Ich schnaufte und leerte die Tasche aus. "Du bist also einfach so heute da? Zwei Stunden mit dem Zug gefahren, um mich einfach so zu besuchen?"

Meine Mutter schaute mich mit ihrem "ist das so unvorstellbar"-Blick an.

"Ich frag ja nur", fügte ich hinzu. Ich wusste, dass sie etwas im Schilde führte. Nur was es war, würde ich vermutlich erst noch herausfinden müssen. "Wie lange planst du zu bleiben?"

"Ich kann auch wieder gehen", sagte Mutter und hob die Hände verteidigend in die Luft. "Erica setzt mich nachher auf dem Weg nach Bristol zu Hause ab. Sie war die letzten Nächte bei Jonas. Aber ich kenn' sie ja gut, ihr fehlt die Natur und die Ruhe. Diese Wohnung am Stadtrand ist wirklich ideal. Sie hat die Natur direkt vor der Tür. Dieses hin- und -hergefahre zwischen London und Bristol tut ihr nicht gut. Aber Jonas möchte nicht raus ziehen. Ein Dilemma. Ich habe ihr schon gesagt, dass sich Jonas langfristig sehr gut überlegen muss, wo er wohnen möchte. Wie will sie denn drei Kinder in einer Londoner Penthouse-Wohnung erziehen?"

Ich zwang mich nicht zu lachen und nahm eine Tasse aus dem Regal. Sie waren gerade mal wenige Monate zusammen und Mutter dachte jetzt schon darüber nach, wie Jonas Junior in einer Penthouse-Wohnung aufwachsen muss. Vermutlich würde ihm bei der atemberaubenden Aussicht auf Londons Skyline regelrecht der Schnulli aus dem Mund fallen.

Zimmer mit Aussicht (I + II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt