K A P I T E L ❤ 09
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"Es tut mir Leid, Frau Shepherd. Die Business-Class wurde leider überbucht. Ich kann Ihnen einen späteren Flug anbieten oder ein downgrade zur Economy-Class."
Die Worte der jungen Frau hallten mir noch immer in den Ohren nach. Das es ein Mittelsitz war, hatte sie wohl vergessen zu erwähnen. Dass neben mir Reinhard, zwei-einhalb Plätze beanspruchen und eine Präferenz zu deutschen Käsesemmeln mit Zwiebeln haben würde, hatte sie mir auch vorenthalten. Dass er Reinhard hieß, wusste ich auch nur, weil er mir in den ersten fünf Minuten zwischen zwei Happen seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Unauffällig hatte ich ein Zwiebelstück von meiner Hose wischen müssen. Links neben mir saß ein älterer Herr, der seine überdimensional große Zeitung vor sich aufgeschlagen hatte. Die Schlagzeile dass Prinz William das Land verlässt, um sein Glück in den Staaten zu finden, sprang mir fast schon bedrohlich ins Auge.
Anja schaute mich mit wehleidigem Blick über die Sitze hinweg an. Neben ihr ein junger Vater mit zwei Kleinkindern. Eins davon hatte ihr anscheinend gerade auf die Bluse gespuckt.
Ich hob die Hände entschuldigend in die Höhe, setzte meine Noice-Canceling-Kopfhörer auf und schloss die Augen. Ich spürte dass sich das Flugzeug in Bewegung setzte. Hörte in weiter Ferne das Brummen der Motoren und die dumpfen nicht verständlichen Worte der Flugbegleiterin. Ich fand es interessant, was es mit mir machte, wenn ich Augen und Ohren vor sämtlichen Eindrücken verschloss. Wenn ich für einen Moment an nichts zu denken versuchte. Ich den Input dieser Welt kurz ausblendete. Bilder tauchten vor meinen Augen auf. Kurze, wahllose Momente aus der Vergangenheit. Gedanken schossen kreuz und quer. Ich versuche sie zu verdrängen. Versuchte ausnahmsweise an nichts zu denken. Stellte mir einen schwarzen Kreis vor. Er wurde zu einem Loch. Immer und immer tiefer wurde es. Ein Brunnen. Erinnerte mich an ein Märchen, das unsere Oma uns vorgelesen hatte. Ellis, hör auf zu denken, dachte ich. Doch war ich kein geübter Tibetanischer Mönch und so tauchte Williams Gesicht auf. Es verschwamm und das meiner Mutter erschien. Mit breitem Lächeln. Im Hintergrund der geschmückte Weihnachtsbaum. Ich sah die Hand meiner Oma auf meinem Arm liegen. Hörte ihre Worte im Kopf. Sah die eindringlichen Blicke ihrerseits. Sie verpuffte wieder, so schnell wie sie aufgetaucht war. Spürte auf einmal Elliots Hand an meinem Hintern, an meiner Hüfte, an den Brüsten. Sah ihn vor mir wie er auf dem Bett lag, in weißem Hemd und Brille. Er verblasste. Wurde ausgetauscht durch Sasha. Wie wir mit sechszehn uns auf die Party von Kenny Kraut-Krawinski geschlichen hatten. Auf einmal sah ich Kennys Gesicht vor Augen. Sah seinen aufgerissenen Mund und seine blauen Augen als er mit gequält geilem Blick zum ersten Mal seinen Miniaturpimmel in meine noch jungräuliche Unschuld schob. Ich schlug die Augen auf. Schüttelte mich innerlich und starrte auf die Überschrift eines Beitrags in der Zeitung des alten Mannes. "Der Frühling in London kündigt sich an."
Ich nahm meine Zeitschrift aus der Handtasche, blätterte auf Seite vierunddreißig und las den Artikel, den ich mir zuvor im Taxi herausgesucht hatte. Es ging um Julias neue Social Media Strategie und wie die Teenager ihren Content hypten als wäre sie fucking Beyoncé. Auf einem Bild war ein Screenshot von TokTik zu sehen. Julia tanzend mit ihren Kollegenen. Alle trugen sie ein blaues Schirt mit dem Logo ihrer Firma. Die Caption: "Together we can bring light into someones darkness."
Ich hätte kotzen können. Im Abschnitt darunter stand ein Zitat von ihr: "Manche müssen erst eine tiefgreifende Erfahrung durchleben, um das Ausmaß zu sehen. Wir reden hier von Millionen von Kindern und Jugendlichen weltweit die keinen Zugang zu psychologischer Betreuung erhalten können. Ich bin froh, dass ich dieses Problem sehen konnte, auch ohne eine solche Erfahrung machen zu müssen. Denn so viele verschließen die Augen, vor dem was sie nicht tangiert, bis sie selber die bittere Wahrheit erfahren müssen. Das wollte ich anders machen."
Ich drehte die Augen gen Flugzeugdecke und atmete frustriert aus. Irgendjemand hatte ein "F*ck Trump" Sticker auf eine der Leselampen geklebt.
Ich lachte auf, klappte die Zeitschrift zu und drehte Metallica auf auf.
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Zimmer mit Aussicht (I + II)
RomansaEllis hält nicht viel von Beziehungen, einem nine-to-five Job und der immergleichen Aussicht aus dem Schlafzimmerfenster. Stattdessen gehören Konferenzen, Hotelbars und attraktive Businessmänner zwischen ihren Laken zu ihrem Daily Business. Zu Missg...