K A P I T E L ❤ 05
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„Ich werde Ellis noch nach Hause begleiten", sagte Sasha an Jessica gewandt und erhob sich aus ihrem Stuhl. Nach dem Abendessen bei Sashas Familie, waren wir drei noch lange am Tisch verweilt. Wir hatten eine weitere Flasche Wein geköpft und über das Leben philosophiert. Das Essen war ausgesprochen unspektakulär verlaufen. Sashas Mutter schien ganz entzückt über Jessica und redete mit ihr über die üblichen Smalltalk-Themen. Sie schien etwas nervös und aufgeregt. Meine Eltern hielten sich eher im Hintergrund zurück und ließen sich nicht anmerken, wie froh sie waren, dass weder Erika noch ich vom anderen Ufer waren. Meine Eltern mochten Sasha. Sie kannten sie, seitdem sie geboren war, doch waren sie noch nicht bereit, zu akzeptieren, dass sich die Welt um sie herum änderte. Es hatte einen Shepherds Pie gegeben und Jessica hatte sich um das Dessert gekümmert. Ein göttliches Tiramisu, das so in Rum ertränkt worden war, dass wir danach alle etwas beschwipst waren. Alles war relativ ruhig verlaufen und jeder hatte versucht besonders höflich, locker und fröhlich zu wirken. Doch dieser Tag brachte einen bitteren Beigeschmack mit. Er lag den ganzen Abend auf der Zunge. Er war nicht wegzuschmecken. So sehr wir alle versuchten ihn mit Wein, Shepherds Pie und Tiramisu zu verdrängen, so kam er wieder hervor, sobald Ruhe eingekehrt war und das Gehirn von vorne begann mit dem üblichen Gedankenkarussel, aus dem jeder vergeblich auszubrechen versuchte.
Sasha lief um den Tisch zu ihrer Freundin und umarmte sie von hinten. Sie flüsterte etwas in ihr Ohr und gab ihr dann einen Kuss auf den Nacken.
„Es war schön dich zu sehen, Ellis", sagte Jessica und lächelte mich an.
Auch ich stand auf und schob den Stuhl an den Tisch heran.
Schweigend schlüpften wir in unsere Mäntel und zogen unsere Schuhe an.
„Es war wirklich ein netter Abend, danke fürs organisieren", sagte ich schließlich, als ich die Türklinke herunterdrückte.
„Es schien so als ob Mom gefallen an Jessica gefunden hat...zumindest hat sie sich viel Mühe gegeben."
„Eindeutig", rief ich zuversichtlich und zog die Tür hinter mir zu.
Langsam stiegen wir die Treppenstufen hinab. Ich harkte mich bei Sasha unter und legte kurz meinen Kopf auf ihre Schulter.
Es hatte aufgehört zu regnen, auch wenn die Luft noch feucht und kühl war. Sasha wohnte nicht weit entfernt. Ein kurzer Fußweg von wenigen Minuten. Doch war ich froh, dass sie mich begleitete. Wir kannten den Weg, ohne hinschauen zu müssen, so oft waren wir ihn als Kinder gegangen. Sasha und ich kannten uns seitdem wir geboren wurden. Sie kannte mich manchmal besser als ich mich selbst. Sie wusste oft schon was ich dachte und wie ich reagieren würde, bevor mir es bewusst war. Wir kannten die Ängste, die Wünsche und die Sehnsüchte. Wir waren auf dieselbe Schule gegangen, hatten dieselben Interessen und für dieselben Jungs geschwärmt. Unser Sorgen waren klein gewesen, in einer so großen Welt. Heute schienen sie eher groß, in einer immer kleiner werdenden Welt. Aus unseren täglichen Nachmittagen, in denen wir durch die Straßen rannten und mit Kreide malten wurden Tage an denen wir uns zum Teil nicht einmal eine Nachricht schrieben. Wir wurden erwachsen. Wir hatten andere Sorgen. Ich wünschte mir, noch einmal mit Kreide mein Traumhaus auf die Straße malen zu können. Stattdessen starrte ich den ganzen Tag in den Bildschirm, diskutierte in Meetings über wichtige Themen und trank eine Tasse Kaffee nach der anderen. Wenn Sasha und ich uns heute trafen, dann nicht um Disneyfilme zu schauen, sondern um Trost zu finden.
„Erzähl es keinem, Ellis, aber ich bin mir manchmal unsicher was Jessica angeht", begann Sasha. „Eigentlich bin ich glücklich. Ich habe mich gefreut sie meinen Eltern vorzustellen. Aber dann sehe ich deine Eltern. Wie sie froh sind, dass Erica einen Freund hat. Wie sie froh sind, dass nicht du eine Frau datest, sondern ich. Sie sind eine in einer anderen Generation aufgewachsen. Unsere Großeltern sind mit dem Glauben aufgewachsen, eine Frau müsse heiraten, Kinder bekommen - da das ihre Aufgabe im Leben ist – und bis ans Ende ihres Lebens mit ihrem Ehemann zusammen sein. Egal wie unerträglich er war oder wie viele Affären er hatte. Es war einfach so und die meisten hatten nicht die finanziellen Mittel, dem zu entkommen."
„Deinen Eltern sollte es wichtig sein, dass du glücklich bist Sasha", antwortete ich.
„Meine Eltern sind konservativer als du denkst, Ellis. Der Unterschied zu deinen ist, sie verbergen es", sagte sie und stöhnte auf, "Ich habe letztens im Tablet den Browserverlauf von Dad gesehen."
"Will ich es wissen?"
"Ach, Ellis. Es ist einfach peinlich. Aber man kann es ihm nicht verübeln. Es ist eine Welt, die er nicht kennt", erklärte Sasha.
"Sasha, deine BDSM Lesbenwelt mit euren Untergrund-Fetischparties sind auch mir neu."
"Du lachst, meine Liebe, aber das ist keine Seltenheit. Die sind alle viel weniger verklemmt, als ihr Durchschnitts-Heteros!"
"Ich bin überhaupt nicht verklemmt! Also los, erzähl."
"Ach, er hatte danach gegoogelt, woran man eine echte Lesbe erkennt. Der zweite Sucheintrag war: wer ist die Frau und wer der Mann und zu guter Letzt hatte es ihn anscheinend interessiert, ob Kinderadoption legal ist."
"Du verarschst mich, oder?", fragte ich und musste laut drauf losprusten.
"Kein Witz. Es ist ja schön, dass er sich interessiert. Aber Ellis, es ist zum Haare sträuben."
"Immerhin hat er nicht so etwas gegoogelt wie: Wie werden Frauen miteinander intim?"
"Oh. Mein. Gott. Ich seh' schon wie er panisch aus seinem Sessel aufspringt, weil er aus Versehen auf einer unanständigen Seite gelandet ist. Wahrscheinlich wäre er direkt erst einmal zur Beichte gerannt."
Wie zwei Teenager liefen wir laut lachend durch die Straßen. Es fühlte sich so frei und entspannt an. Es tat gut. Es ließ mich eine Zeit lang die Dinge vergessen, die sich so schwer aus meinem Kopf verbannen ließen.
Eine Weile liefen wir schweigend die Straße entlang. Vorbei an den kleinen Reihenhäusern, die sich kaum voneinander zu unterscheiden ließen. Nur zu hören unsere Schritte und unsere Stimmen in der Nacht.
Am Ende der Straße konnte man schon die hellen Lichter unserer Weihnachtsdekoration sehen.
„Jetzt hör auf dir so viele Gedanken zu machen. Schau dir lieber diese unglaublich helle Weihnachtsdekoration meiner Eltern an. Sie haben dieses Jahr sogar ein leuchtendes Rentier aufs Dach gestellt. Mann kann es vermutlich vom Mond aus sehen."
Wir blieben vor dem Gartentor stehen und betrachteten eine Weile die – es tat mir wirklich leid, es sagen zu müssen – scheußlich, kitschige Weihnachtsdekoration an.
„Konntest du letzte Nacht überhaupt schlafen, bei der Beleuchtung?", sagte Sasha und kicherte. „Ist das da ein Weihnachtsmann, der auf dem Rücken eines Elches sitzt und Gitarre spielt?"
„Mh."
„Wow."
„Mh."
Wir schwiegen. Starrten auf die Dekoration meiner Eltern und dachten uns, wie seltsam das Leben doch eigentlich war.
Ich knipste das Licht aus und zog die warme Decke bis ans Kinn. Auf einmal war ich alles andere als müde. Meine Augen waren weit geöffnet und ich starrte in den halbdunklen Raum hinein. Aufgrund des leuchtenden Weihnachtsmannes der gitarrespielend auf dem Elch saß, konnte ich die Umrisse meines Zimmers sehen. Eine Weile starrte ich auf den Schreibtisch, an dem ich als Teenager Hausaufgaben gemacht hatte und Liebesbriefe schrieb. Auch meine Tagebücher hatte ich dort mit meinen Gedanken gefüllt. Über dem Schreibtisch hing eine alte Fotocollage, die mir Sasha zu meinem sechszehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ich hatte sie so oft gesehen, dass ich es nicht einmal wirklich hinsehen musste, um zu wissen, welche Bilder dort hingen. Wir beide im Urlaub an der Küste. Braun gebrannt in bunten Badeanzügen mit breitem Grinsen und drahtigen Zahnspangen. Sasha und ich auf unserer ersten Party mit einigen Klassenkammeraden. Wir mussten Vierzehn gewesen sein. In unseren Händen Cola und Dosenbier. Alles Fotos auf denen wir zusammen die Abenteuer der Jugend erlebt haben. Mein Blick schweifte weiter über die Wände, an denen alten Poster von Boybands und Pferden hangen. Ich war so unschuldig und glücklich gewesen, stellte ich fest. Es fühlte sich seltsam an, hier in diesem Bett zu liegen, in dem ich als Kind schon geschlafen hatte.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Mein Leben wäre heute vermutlich ein gänzlich anderes. Doch wäre ich glücklicher? Denn eigentlich so dachte ich, war ich es bereits.
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Zimmer mit Aussicht (I + II)
RomanceEllis hält nicht viel von Beziehungen, einem nine-to-five Job und der immergleichen Aussicht aus dem Schlafzimmerfenster. Stattdessen gehören Konferenzen, Hotelbars und attraktive Businessmänner zwischen ihren Laken zu ihrem Daily Business. Zu Missg...