Kapitel 09 | 01

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K A P I T E L 09

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Als ich am Sonntag morgens nach Little Win aufbrach, wurde mir bewusst, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Mit laut klopfendem Herz saß ich hinter dem Lenkrad meines Mietautos und ging etliche Szenarien durch. Ich stellte mir vor, wie mein Vater mit einem Herzinfarkt in eine Klinik eingewiesen wurde. Wie meine Mutter die Scheidung einforderte und beschloss als Nonne in ein Kloster zu ziehen, da der einzige Mann, dem sie je vertraut hat, sie so hintergangen hat. Ich stellte mir vor, wie Erica sich freiwillig enterben ließ und nie wieder ein Wort mit Dad wechseln wollte. Meine Gedanken rasten wild und doch wusste ich, dass es keine andere Wahl gab. Sese und ihr Freund hatten Erica und mich ausfindig gemacht. Wenn wir es unserem Vater nicht erzählten, dann würde sie es tun.

Die Ähnlichkeit zu uns Schwestern war unübersehbar gewesen. Doch war sie ein fremder Mensch. Eine Person, die ich nicht kannte. Ich wusste nicht, ob ich sie überhaupt kennenlernen wollte.

Ich versuchte mich abzulenken, in dem ich die Musik lauter drehte. Doch Rage against the Machine oder Rammstein schien nicht gerade zu einem Ruhepuls zu führen. Vielleicht bräuchte ich mediative Naturklänge. Aber Regenwald-Akustik hatte auch nach Anjas Empfehlung nach einem hitzigen Meeting nicht dazu geführt, dass ich Zen mit mir selber war. Stattdessen hatte ich die lauten Vögel verflucht, die unbeschwert vor sich hinsangen.

Elliot war mir in den letzten Tagen keine all zu große Hilfe mit diesem Thema gewesen. Wenn er nicht über Afrika sprach, dann darüber, dass genau solche Szenarien nicht in seinem Interesse standen und somit vermutlich besser mit William oder irgendeinem anderem Typen zu besprechen wäre. Allein das machte mich schon wieder so wütend, dass ich die Musik noch lauter drehte. Zur weiteren Krisenbewältigung schrie ich unnötigerweise noch den Refrain eines Songs mit. In tiefer Stimme. Imitierend einem Heavy-Metal Sänger. Vielleicht sollte ich auch gleich meine Haare mitschwingen lassen? Der Blick, des älteren Herren, der in seinem Volvo neben mir an einer Ampel stand und vermutlich Beethoven hörte, bestätigte meine Vermutung: ich war nun vollkommen übergeschnappt. Meine Entspannung nach dem einwöchiger Italien-Retreat hatte ungefähr sechseinhalb Wochen gehalten. Nur war ich auf Vorkrisen-Niveau und das Ausmaß der Katastrophe durfte der arme Mann nun live miterleben.

Ich drehte die Musik leiser, schob die Sonnenbrille auf die Nase und tat so, als wäre meine kleine Performance gerade nie geschehen. Doch tief im inneren wusste auch ich, dass es Zeit war, einen Therapeuten aufzusuchen.


Erica war schon vor mir da. Ihr Wagen stand in der Einfahrt. Sie saß hinter dem Lenkrad und starrte die Garagentür an. Ich fragte mich, ob sie auf ihrer Fahrt das gleiche Emotionschaos wie ich erlebt hatte. Vermutlich hatte sie anstelle von Heavy Metal zu Disney-Liedern mitgesungen. Ich klopfte an ihre Fensterscheibe. Erica zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Sie sah aus, als hätte sie die letzte Nacht kein Auge zugemacht.

"Du siehst echt scheiße aus, Ellis", begrüßte sie mich. "Hast du keine Haarbürste daheim?"

Ich schmunzelte. "Du siehst auch nicht besser aus."

Erica presste die Lippen aufeinander. Sie musste sich ein Lächeln verkneifen. Ich konnte es an ihren Augen sehen.

"Es tut mir Leid, dass ich in den letzten Wochen so eine Bitch war", gab sie unerwartet von sich.

"Lass gut sein", sagte ich.

"Dad ist so durch bei mir", sagte sie und marschierte geradewegs zur Haustür.

"Wollen wir uns nicht vorab besprechen?"

"Hier gibt es nichts mehr zu besprechen", gab sie zurück und steckte den Schlüssel ins Schloss.

Zimmer mit Aussicht (I + II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt