Kapitel 06 | 3 | Edited

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K A P I T E L 06

3

Was ich glaubte, was die Menschen wirklich an diesem einem besagtem Abend im Jahr so romantisierten, war dieser kurze Moment, bevor das Feuerwerk am Himmel erstrahlte und die letzten Sekunden heruntergezählt wurden. Die ganze Konzentration und Aufmerksamkeit lag auf den Zahlen, die gemeinsam laut in die Nacht gerufen wurden. In dem Moment, in dem die Null erreicht wurde und alle Blicke hinauf in den Himmel gingen, vergaßen sie die Welt um sich herum. Sie hörte sich für einen Moment auf zu drehen. Die meisten Menschen hatten verlernt im hier und jetzt zu Leben. Den Augenblick zu genießen. Die Welt, sich selber und das just in dem Moment Geschehene zu spüren. So kam es, dass dieser eine kurze Moment, in dem der Himmel vor bunten Farben leuchtete, so besonders war. Es war für viele vermutlich der einzige, der ihnen erlaubte an nichts anderes zu denken. Alle davon überzeugt, dass das nächste Jahr, ihnen all die Möglichkeiten geben würde, die sie im vorigen verpasst hatten. Jetzt würde alles anders werden. Und während sie mit strahlenden Augen, wie nur Kinder sie an Weihnachten hatten, hinauf in den Himmel starrten, wünschten sie sich an keinen anderen Ort dieser Welt.

Ich hätte auf das Feuerwerk am Himmel starren können – so wie alle anderen auch, an diesem Abend - doch blickte ich hinab auf die Worte, die Schwarz auf Weiß auf meinem Handy zu lesen waren: Ich hasse belanglose Partys.

Ich dachte nach. Blickte hinauf ins Feuerwerk.

...mit belanglosen Menschen, schrieb ich.

Das, Ellis Shepherd, waren Ihre Worte.

Ich grinste und steckte mein Handy wieder ein. Mein Blick fiel auf William, der einige Meter weiter auf der Dachterrasse an der Balustrade stand. Er blickte hinauf. Ein Grinsen lag auf seinen Lippen. Eine Mischung aus Nostalgie und Sehnsucht in den Augen.

Ich bahnte mir meinen Weg durch die Gäste in seine Richtung. Doch ehe ich bei ihm war, hatte sich links neben ihm eine groß gewachsene Blondine im dicken Pelzmantel und langen silbernen Ohrringen gesellt. Ihren Arm legte sie um seine Hüfte. Sie flüsterte ihm etwas zu. Ihr Lachen ertönte. William stimmte ein. Ihr Kopf legte sich auf seine Schulter. Sie hatten eine Geschichte. Es war nicht zu übersehen.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich Silvester feierte. William und der laufende Pelzmantel erinnerten mich daran, warum ich es eigentlich nie mehr tun wollte.

Als das letzte Feuerwerk erlosch, stand ich noch immer dort. Gedankenverloren in die Ferne schauend.

William und die Blondine drehten sich schließlich vom Gelände weg und nahmen ihren Weg in Richtung Tür. Einen kurzen Moment blickte er sich fast schon suchend um. Seinen Arm hatte er noch immer um die Frau gelegt, die er mir nie vorgestellt hatte.

Er hielt für einen kurzen Moment inne. Schaute mich an. War sich unsicher. Ich lächelte ihm verständnisvoll zu und hob mein Sektglas an. Dann zwinkerte er mir zu, hob sein Glas an und rief lautlos „Happy New Year" in meine Richtung.

„Ellis, kommst du mit rein?", rief einer der Gäste in meine Richtung. Es war Juan, ein schwuler Südamerikaner, den ich an der Bar kennengelernt hatte. Er hatte mich zunächst verwechselt; für eine alte Freundin von ihm gehalten. Lange hatten wir darüber gelacht, denn seine alte Bekannte sah, wie wir feststellten, nicht einmal ansatzweise so aus wie ich.

„Ich komm gleich, Juan! Lass uns an der Bar treffen!"

„Gute Idee. Den Barkeeper könnt' ich den ganzen Abend anschmachten! Martiny?"

Ich nickte ihm zu.

Ein Vibrieren in meiner Tasche kündigte die erste Neujahresnachricht an.

Meine Assistentin hätte noch einen freien Termin in meinem Kalender.

Zimmer mit Aussicht (I + II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt