Kapitel 05 | 4 | Edited

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K A P I T E L 05

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Meine Schwester saß mit rot verweinten Augen und dunklen Augenringe mir gegenüber am weihnachtlich geschmückten Esstisch. Sie hatte versucht die Ringe mit Make-up zu überdecken. Erfolglos. Sie glich einem müden Waschbären. Ihr Blick starr auf ihren noch leeren Teller gerichtet. Meine Mutter saß neben ihr. Sie hatte sich die Haare zurecht gemacht und eins ihrer, wie sie es gern nannte, „Ausgeh"-Kleider an. Mein Vater hatte sich Hemd mit Krawatte angezogen.

Die Weihnachtsessen meiner Familie waren schon eine seltsame Angelegenheit, dachte ich, während mein Blick über den Tisch schweifte. Es wurde eine üppig geschmückte Tanne aufgestellt, da schon immer eine aufgestellt wurde. Es wurden Geschenke verpackt und verschenkt. Es wurde gegessen und getrunken und alte Familiengeschichten ausgepackt. In jeder Familie gab es mindestens einen seltsamen Onkel oder eine Tante. (In unserer war es Tante Molly, die jedes Jahr um Weihnachten nach Goa flog, um ihre spirituelle innere Mitte wiederzufinden). Im Laufe des Abends, wenn der Wein mehr wurde, fingen alle an sich zu sagen, wie schön es doch sei gemeinsam zusammenzusitzen. Man fragte sich, warum man dies nicht öfter tat. Am Ende des Abends wusste man es.

In dieser bunten Familienrunde saß meine Großmutter neben mir. Schon bei der Begrüßung hatte sie mich nachdenklich gemustert. Nun saß sie neben mir und tätschelte hin und wieder meinen Arm. Ihr lag etwas auf der Zunge, doch suchte sie noch den richtigen Zeitpunkt mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich alt und einsam als Jungfer sterben würde. Ich wartete nur auf den Zeitpunkt, zu dem sie mir erzählte, wie sie mit Achtzehn Opa beim Orgelspiel in der Kirche kennengelernt hatte. Der Mann ihrer Träume, der sie direkt mit zwei Kinder beglückte.

Sie hatte sich schon den Kommentar für Erica nicht verkneifen können. Sie war der Meinung, ihr Freund hätte Erica verlassen, da sie damals den Hauswirtschaftskurs an der Schule nicht belegt und stattdessen lieber mit den Jungs im Hof Fußball gespielt hatte. Zu Omas Verteidigung, Erica konnte tatsächlich nicht kochen.

Neben Oma saßen meine zwei Cousinen. Eine verheiratet, die andere gerade geschieden. Unsere Oma konnte sich noch nicht zusammenreimen, weshalb sie sich geschieden hatten. Doch sie hatte mir nach der Vorspeise zugeflüstert, dass es bestimmt daran lag, dass sie wieder zu arbeiten begonnen hatte. Das hätte ihren Mann entmannt. Ich musste aufpassen nicht die Bohnensuppe quer über den Tisch zu spucken.

„Und wie geht es dir Liebes? Was machen die Herzensangelegenheiten", hatte sie schließlich begonnen, nur darauf wartend wie ein Wolf das Schaf zu reißen.

„Herrlich riecht das, Mom", rief ich meiner Mutter über den Tisch zu und ignorierte die Frage. Ihr Zeitpunkt würde noch kommen, da war ich mir sicher. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Zwischen mir und ihr lag mehr als ein halbes Jahrhundert. Die Welt dreht sich schneller, als dass wir Menschen uns anpassen konnten.

Meine Oma wuchs in einer Generation auf in der in einigen Ländern die Sklaverei noch praktiziert wurde. In der Frauen und Männer nicht als gleichwertig angesehen wurden. In denen es Rollen gab, die es zu erfüllen galt. Homophobie, Rassismus, Frauenrechte waren Fremdwörter, die noch erfunden werden mussten. Ich fragte mich, wie ich einst sein würde, wenn ich ihr Alter erreicht hätte. (Ich hoffte ich würde braun gebrannt auf den Malediven hocken, während ich mir Cocktails von einem heißen, viel zu jungen Poolboy bringen lassen würde.)

„Dein Vater und ich haben ihn übrigens eingeladen", rief mir meine Mutter über den Tisch zu und reichte mir einen Teller.

„Wen habt ihr eingeladen?", fragte ich, gedanklich noch immer auf den Malediven.

„Na, William natürlich", gab sie zurück. „Reichst du mir bitte Omas Teller?"

„William?!", fragte ich unnötigerweise zwei Tonlagen zu hoch. Stille trat ein und der gesamte Tisch schaute in meine Richtung.

Zimmer mit Aussicht (I + II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt