Part 71 - Alpträume

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Ich sehe ihr in die Augen. Etwas ist anders, das merke ich sofort. Was ist los? Wir hatten noch nie viel miteinander zu tun, außer dass wir uns ab und zu begrüßten oder mal auf dem Gang unterhielten. Man konnte sagen, dass wir beide auf der Beliebtheitsskala nicht unbedingt an oberster Stelle standen, aber mir machte das nicht sehr viel aus. Klar, anders wäre es bestimmt schöner, aber man gewöhnt sich schließlich an alles.

Eigentlich sollte ich sie fragen, ob alles in Ordnung sei, jeder, der sie so sieht hätte das tun sollen, doch wir sind nicht so gut befreundet, dass wir uns nach Befindlichkeiten des anderen erkundigen würden. Ich weiß so oder so, dass es ihr nicht gut geht.

Sie deutet mir den Weg und ich folge ihr. Die Stimmung ist seltsam und ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Vielleicht wäre es besser, wenn wir hier bleiben würden, wo auch noch andere sind.

Gerade will ich etwas sagen, aber da greift sie nach meinem Handgelenk. Hat sie gemerkt, dass ich ihr nicht mehr hinterher will? Was hat sie vor?

Ich bleibe stehen und sehe auf mein Handgelenk. Ihre Hand umklammert es fest und als sie merkt, dass ich nicht vorhabe, weiter zu gehen, zieht sie mich mit einer Kraft weiter, die ich ihr nicht zugetraut hätte.

Bin ich wirklich so schwach, dass sie mich einfach so hinterher ziehen kann? Ich sollte dringend mehr Sport machen.

Ein weiterer Blick auf mein Handgelenk bestätigt mir mein Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis das komplette Blut abgedrückt sei. Dann kommt mir ihr Ziel ins Blickfeld. Sie wird doch nicht...? Nein, das kann sie nicht wirklich wollen!

Mit einem Mal reiße ich meine Augen auf. Mein Herz schlägt unnatürlich schnell und mein ganzer Körper ist verschwitzt. Ich versuche mit aller Kraft meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war wieder so real, als ob ich gerade noch in der Situation gewesen bin. Seitdem sind doch schon zwei Jahre vergangen, wieso können dann nicht langsam auch mal die Träume verschwinden.

Eigentlich dachte ich, dass ich wenigstens das überstanden hätte, weil ich meinen letzten Alptraum vor etwa drei Monaten hatte. Wieso kann nicht mal auch nur eine Sache besser werden?

Langsam tauchen kleine, schwarze Punkte vor meinen Augen auf. Ein Zeichen dafür, dass ich wieder mal eindeutig zu stark hyperventiliere und somit zu viel Sauerstoff in meinen Lungen habe. Mit zitternden Fingern ziehe ich mir die Bettdecke über Mund und Nase, um somit zumindest ein wenig Luft abzuhalten, wenn ich schon keine Tüte zur Hand habe.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder einigermaßen normal atmen und sehen kann. Für solche Fälle habe ich eigentlich die Tabletten von meinem Arzt, aber ich bin ja so schlau gewesen, sie in meinem Kulturbeutel zu lassen, der irgendwo im Bad herumliegt.

Noch immer wird mein Körper in regelmäßigen Abständen geschüttelt. Ich hoffe, dass es keiner merkt, denn es wäre mir schon ein wenig unangenehm. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie mich so sähen. Oder noch schlimmer: Wenn mich Mr Morrison so sehen würde. Wahrscheinlich würde er mich knallhart rausschmeißen. Von wegen, dass psychische Probleme mich bei meiner Arbeit behindern würden.

Was sie ja auch überhaupt nicht tun...

Das Zittern wird immer weniger und ich merke, wie die Müdigkeit zurückkommt. Am liebsten würde ich mich sofort wieder in die vertraute Schwärze des Schlafes verkriechen, aber ich habe Angst, dass es wieder ein Alptraum wird. Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, denn ich hatte bisher noch nie zwei dieser Träumer direkt hintereinander gehabt, aber wie sagt man so schön? Es gibt immer ein erstes Mal.

Wie ich diesen Spruch früher immer gehasst habe, wenn das einer zu mir gesagt hat. Meiner Meinung nach hatte ich dieses Jahr schon mehr als genügend „erste Male". Ich bin das erste Mal von der Schule geflogen, mein Direktor war das erste Mal dabei, als ich Probleme mit meinen Mitschülern hatte und ich bin das erste Mal auf längere Zeit von meiner Familie getrennt. Das Schlimme ist, dass ich mit dieser Liste noch eine Weile weiter machen könnte. Ändern würde das aber auch nichts mehr.

In diesem Moment überkommt mich das starke Gefühl von Heimweh. Ich weiß, dass ich nach außen hin immer so wirke, als hätte ich mit nichts Probleme, als würde mich alles nichts angehen, aber das ist nicht so. Zu Hause habe ich die Leute um mich, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich muss nicht darauf aufpassen, was ich sage, weil ich sonst in Schwierigkeiten kommen könnte. Gut, wenn man mal davon absieht, dass ich mich nicht mit meiner Mutter anlegen sollte, wenn es darum geht, wer den Müll rausbringen soll, denn das kann schon unschöne Konsequenzen haben.

Hier muss ich immer damit rechnen, dass Logan wieder auf mich losgeht, dass Matt einen dummen Spruch loslässt, oder dass Lucy so schüchtern ist, dass man Angst haben muss, sie mit lediglich einem schiefen Blick zu verletzen. Zudem kann ich Mr Morrison nicht einschätzen, sowohl der Pumuckel, als auch Mason wollen alles über mich wissen, weil sie mir ja nur helfen wollen. David und Mr Schrank sind auch zwei Kandidaten, bei denen ich nicht weiß, was in der nächsten Sekunde auf mich zukommen könnte, von Miri ganz zu schweigen.

Meine Mutter ist immer verständnisvoll. Ich kann immer mit ihr reden, wenn ich das Bedürfnis habe. Jake ist auch immer da. Ja, wir kabbeln uns eher, als dass wir sinnvolle Gespräche miteinander führen, aber dafür sind Geschwister ja da.

Jetzt, wenn ich hier so ruhig daliege und nur nachdenke, spüre ich, wie mir langsam kälter wird. Durch den Alptraum habe ich so geschwitzt, dass meine gesamten Klamotten klitschnass sind und nun kalt an meinem Körper kleben. Kein Wunder, dass ich friere. Auch wenn es schon lange Sommer ist, wird es nachts frisch.

Mühsam rappele ich mich auf, wieder darauf bedacht, möglichst leise zu sein. Das ist eindeutig ein weiterer Nachteil dieser Tourbusse. Natürlich sind Stockbetten platzsparender, als normale Betten, aber sie sind einfach unpraktisch für Menschen, wie mich. Und wahrscheinlich für jeden anderen auch, der sich mitten in der Nacht aus dem obersten der drei Betten schleichen will.

Irgendwie schaffe ich es halbwegs leise auf den Boden und laufe zu dem Schrank, in dem ich meine Klamotten untergebracht habe und greife wahllos nach neuen Sachen, mit denen ich dann im Bad verschwinde. Ja, ich weiß, dass alle schlafen, aber man weiß ja nie, ob nicht doch noch einer aufwacht, und auf dem Bett ist es mir zu eng. Da würde ich es unter Garantie schaffen, aus Versehen gegen die Wände zu schlagen, sodass der ganze Bus hinterher denken würde, dass eine Bombe hochgegangen wäre.

Da ich im Bad kein Licht anmache, stoße ich prompt gegen einen Schrank und etwas fällt auf den Boden. Na super, vielleicht schaffe ich es ja doch noch, jemanden aufzuwecken.

Mühsam beuge ich mich nach unten, um das, was heruntergefallen ist, wieder aufzuheben. Als ich es in den Händen halte, entpuppt es sich als mein Kulturtäschchen, aus dem eine Ecke des Tablettenblisters mit meinen Beruhigungstabletten guckt. Jetzt brauche ich sie auch nicht mehr.

Schnell drücke ich den Blister wieder zurück und schließe die Tasche ganz, bevor ich sie wieder in den Schrank zurückstelle. Es muss ja nicht jeder sofort sehen, dass ich Medikamente mit mir rumtrage.

Kurze Zeit später bin ich fertig mit Umziehen und halte die verschwitzten Klamotten in den Händen. Ich weiß, dass ich sie nicht einfach in den Schrank zu meiner restlichen Schmutzwäsche stecken wollte, bevor sie nicht getrocknet waren, aber darauf kann ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Wird schon nicht so schlimm sein.

Danach klettere ich wieder hoch in mein Bett und kuschele mich unter die Bettdecke. Ich lausche in die Stille hinein und höre das gleichmäßige Atmen der anderen. Kein Hinweis darauf, dass jemand aufgewacht sein könnte.

Und mit diesen ruhigen Atemgeräuschen im Ohr drifte ich in einen traumlosen Schlaf.


Hallo zusammen,

wie angekündigt ist das hier ein vergleichsweise kurzer Part. Ihr seht ja selbst, dass da nicht wirklich viel mehr hätte passieren können ;)

Es tut mir leid, dass ihr mal wieder so lange warten musstet, aber ich habe momentan eine ziemlich hartnäckige Schreibblockade -.-

Was denkt ihr über Josys Alpträume? Glaubt ist, dass es jemand mitbekommen hat?

Für alle, die nicht wissen, was ein Blister ist: Das ist dieses Metallplättchen, in denen Medikamente immer drin sind.

Ich freue mich über Kommentare und Votes! :D

Eure Nadine :)

Was ist eigentlich schiefgelaufen...?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt