Part 75 - Prioritäten

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Da ich Mr Morrison nirgendwo sehen kann, schnappe ich mir mein Handy, das seitdem ich mit den Jungs unterwegs bin kaum noch in Gebrauch ist, und verkrieche mich auf meine Liege im Schlafbereich. Dort ziehe ich gleich noch den Vorhang vor, damit man mich nicht sofort sieht. Mr Morrison würde bestimmt eine Aufgabe einfallen, die ich zu erledigen hätte, wenn er mich hier sehen würde.

Ein kleiner Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es elf Uhr ist. Wie groß war noch mal der Zeitunterschied nach Detroit? Fünf oder sechs Stunden? Hoffen wir mal fünf Stunden, denn ich will Jake zwar noch vor der Schule anrufen, aber ihn nicht viel zu früh wecken. Obwohl... er sollte sich einfach freuen, dass ich mich bei ihm melde; so oft schaffe ich das schließlich nicht, auch wenn ich gerne möchte.

Meine Güte, ich bin seine große Schwester, es sollte mein Ziel sein, ihn zu ärgern.

Ohne einen weiteren Gedanken an die Folgen eines verfrühten Anrufes zu verschwenden, suche ich die Nummer meines Bruders aus meinen Kontakten und tippe sie an. Da gewohnte Tuten während des Leitungsaufbaus ertönt und ich lehne mich entspannt zurück.

„Hallo?", kommt es fragend von Jake am anderen Ende. Seine Stimme ist noch verschlafen und knackt beim Sprechen vor Müdigkeit. Es hört sich leicht an, wie ein absterbender Motor.

„Hey, Jake!", rufe ich fröhlich ins Telefon. Ja, ein kleines bisschen Schadenfreude ist schon dabei, denn er hört sich ziemlich müde an. Es ist klar, dass ich ihn geweckt habe. Außerdem ist es toll, endlich wieder eine familiäre Stimme zu hören. Jake und ich hatten eben schon immer ein besonders gutes Verhältnis.

„Josy?", fragt er durchaus verwirrt und wirkt ein kleines bisschen wacher. Immerhin hat er meine Stimme erkannt. Ein Stöhnen ertönt und etwas raschelt, dann ist wieder Stille in der Leitung. Wahrscheinlich hat er sich aufgesetzt, um einen klareren Gedanken fassen zu können. Das mache ich auch immer. Liegt wohl in der Familie. „Es ist kurz nach fünf!", jammert er und ein dumpfer Laut ist zu hören. Klingt, als ob er den Kopf ein wenig zu fest gegen die Wand gelehnt hätte. Entweder habe ich eine rege Fantasie, oder ich kenne Jake eindeutig zu gut dafür, dass er lediglich mein Bruder ist.

„Ups", entfährt es mir und ich muss leicht kichern. „Ich dachte, es sei schon sechs bei dir, aber da habe ich mich wohl geirrt." Vielleicht hätte ich wirklich vorher noch einmal nachsehen sollen, wie spät es bei ihm ist. Nun ja, er wird es überleben.

„Ist das dein verdammter Ernst?!", faucht er mich an, was durch seine Müdigkeit, die noch immer mehr als nur deutlich hörbar ist, jedoch nicht sehr einschüchternd wirkt. Wow, es ist unglaublich, wie schnell ich es doch mal wieder geschafft habe, jemandem schlechte Laune zu verpassen, der gerade erst aufgewacht ist. Manchmal bin ich sozial schon inkompetent.

„Es tut mir ja leid. Ich hatte nur gerade mal Zeit und wollte dich noch vor der Schule erwischen." Irgendwie habe ich jetzt doch ein schlechtes Gewissen, ihn einfach so früh aus dem Bett geschmissen zu haben. Natürlich telefoniere ich gerne mit ihm, aber ich sollte auch ihn berücksichtigen und ich weiß selbst sehr genau, wie grausam es ist, wenn man noch früher als sowieso schon geweckt wird.

„Vor der Schule?!", fragt er mich völlig entgeistert und so langsam habe ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Nicht, dass ich dieses Gefühl hier nicht ständig haben würde, aber es von Jake vermittelt zu bekommen, macht es definitiv schlimmer. Jake ist mein Bruder und auch wenn ich es nur ungern zugebe, aber er ist auch der beste Freund, den ich je gehabt habe. Er ist mir einfach viel zu wichtig, als dass ich kein schlechtes Gewissen haben könnte.

„Ja...", gebe ich daher ein wenig unsicher von mir. Wie schafft er es bloß, mich komplett aus dem Konzept zu bringen? Ich habe mir etwas dabei gedacht, ihn jetzt anzurufen. Er ist mir wichtig!

Was ist eigentlich schiefgelaufen...?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt