Part 61 - Freude und Leid

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„Josy, du übernimmst wieder den linken Seitenaufgang der Bühne. Das hat gestern ja auch ganz gut geklappt“, gibt mir Mr Schrank meine letzten Anweisungen. Zumindest hoffe ich das, denn wirklich konzentrieren kann ich mich nicht, da würde ich sowieso wieder alles vergessen. Gestern Abend habe ich noch mit Florence geschrieben. Kurz nach dem Ende des ersten Konzerts in Calais habe ich gesehen, dass sie mich angeschrieben hat. Es ist wirklich noch spät geworden, aber es war schön, mal wieder mit jemandem zu schreiben, den man kennt und einschätzen kann. Und der auch mal nicht zur Familie gehört. Jake ist zwar super, aber eben immer noch mein Bruder.

Und Flo hatte tolle Neuigkeiten. Sie meinte übermorgen, also mittlerweile morgen, käme sie mich besuchen, weil sie derzeit bei ihrer Tante, in einem kleinen Kaff hier in der Nähe, sei. Jetzt kann ich mich vor Vorfreude, sie zu sehen, kaum zusammenreißen. Sollte ich aber, denn meinen Job will ich deshalb nicht verlieren.

Ziemlich müde, da ich heute morgen zu unmenschlichen Zeiten geweckt wurde, um die Jungs zum Frühstück zu begleiten, trotte ich also zu dem mir bestimmten Ort. In Kürze kommt wahrscheinlich auch wieder der Mitarbeiter der Sicherheitsfirma, der gestern ebenfalls in dieser Ecke rumgelungert hat. Gestern habe ich mich ab und zu mit ihm unterhalten. Na ja, er ist ein bisschen eigen, aber nach dem Konzert heute wechseln wir ja dann auch wieder den Ort und es gibt andere Leute, mit denen ich mich arrangieren muss. Allerdings ist es so ganz gut. Durch die Gespräche komme ich langsam wieder in die französische Sprache, was ja sinnvoll ist, wenn ich mich morgen mit Florence treffe.

Ich habe Florence ins Hotel bestellt, damit ich noch bei den Jungs bin und man mir nichts vorwerfen kann. Zumal ich mich in der Stadt bestimmt auch wieder verlaufen hätte, so etwas, wie in London passiert mir garantiert kein zweites Mal. Denn das nächste Mal habe ich mein Handy dabei. Dann kann ich zumindest meinen Standort googeln.

„Na, kleines Mädchen.“ Ich sage ja, er ist ein bisschen eigen. Außer ihm erdreistet sich nämlich keiner, mich kleines Mädchen zu nennen, aber das werde ich ihm entweder heute noch beibringen, oder er läuft mir nicht mehr über den Weg. Im Prinzip kann es mir ja egal sein, aber es kratzt schon ein wenig an meinem Ego. Und das Schlimme ist ja, dass er wirklich ein ganzes Stückchen größer ist, als ich. Und zudem auch noch etwa drei Mal so breit. Er könnte quasi Mr Schranks Bruder sein.

„Na, mein Riesenbaby“, kontere ich, aber anstatt beleidigt zu sein, lacht er nur schallend los, Ich werde diese französische Mentalität nie verstehen. Florence ist ja genauso. Sie kann man auch nicht mit gewöhnlichen Mitteln verschrecken. Vielleicht hat sich meine Art und mein Charakter einfach nur das falsche Land – den falschen Kontinent – ausgesucht. Wenn ich hier geboren wäre, wäre es alles bestimmt nicht so weit gekommen.

Dann würde Brooklyn am Ende noch leben...

Okay, Josy, jetzt wird es absurd! Reiß' dich gefälligst mal zusammen! Du solltest nicht so viel über die Vergangenheit nachdenken, dann wird alles nur noch schlimmer. Nimm dich nicht so wichtig, denn du bist nicht der Mittelpunkt des Universums! Das solltest du doch mittlerweile begriffen haben!

„Du bist lustig!“, untermauert er sein Lachen auch noch. Aber wenigstens holt er mich so aus meinen depressiven Gedanken raus. Das ist mir bisher auch eher selten passiert. Falls es mir denn überhaupt schon einmal passiert ist. Dass jemand meine Beleidigungen als lustig bezeichnet, sollte ich mir fett in den Kalender schreiben. Wer weiß, wann es das nächste Mal dazu kommt, wenn es denn jemals wieder dazu kommen sollte. Vielleicht hätte ich es auch aufnehmen sollen, um es Jake vorzuspielen. Der glaubt mir das doch nie!

„Josy!“ Noch bevor ich ihm etwas darauf antworten kann, wobei ich keine Ahnung habe, was das sein könnte, tönt ein nicht gerade freundlicher Schrei durch die riesige Halle. Wenn es nicht ausgerechnet Mr Morrisons liebliche Stimme wäre, die nach mir verlangt, könnte ich ja schon fast froh darüber sein, dem Franzosen, dessen Namen ich im Übrigen nicht weiß, nicht antworten zu müssen. Entschuldigend nicke ich ihm zu und setze dann einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf, um mich meinem Schicksal zu ergeben. Ich habe wirklich keine Lust auf Mr Morrison. Er meckert so oder so nur wieder rum! Hinter mir höre ich, wie sich der Sicherheitsmensch kaum noch einbekommt. Und dann heißt es wieder, ich sei sadistisch! Wann habe ich das letzte Mal jemanden ausgelacht?!

Was ist eigentlich schiefgelaufen...?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt