Part 16 - Abschied

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Ich bin gerade dabei, meine beiden Koffer, die ich, neben einem kleinen Rucksack als Handgepäck, mitnehmen würde, herunterzutragen, als es an der Tür klingelt. Ich sehe auf die Uhr. Punkt halb sechs. Oh Mann! Hoffentlich ist das Zufall und sie haben nicht ernsthaft so einen Pünktlichkeitsfimmel!

Dann höre ich, wie die Tür geöffnet wird und meine Mutter mehrere Personen begrüßt.

Ich seufze auf und gehe dann den Rest der Treppe hinunter. In meinen Koffern habe ich nicht viel drin. Der eine ist gefüllt mit einem Berg an Klamotten für jedes Wetter. Ich meine: Hallo! Europa! Da kann man ja nie wissen!

Na ja, der andere Koffer enthält meine Trainingsgegenstände. Also Gewichte und so weiter. In den Rucksack habe ich das wichtige Zeug eingepackt. Jeweils zwei Ladekabel für mein Handy und den mp3-Spieler, falls eins mal kaputt gehen sollte, dass ich dann noch eins als Ersatz habe. Natürlich enthält der Rucksack auch noch meinen Laptop mitsamt Internet-Stick. Man kann ja nie wissen, wo wir hinkommen würden.

Als ich dann mitsamt meinem Gepäck unten bin, stehen da schon Mr Morrison, die drei Jungs und das Mädchen aus der Schule (Ich glaube, sie heißt Lucy, aber sicher bin ich mir nicht. Und sie sieht schon wieder so eingeschüchtert aus ... kann sie überhaupt anders gucken? Na ja, nicht mein Problem ...) bei meiner Mutter. Sie hält einen Stapel Zettel in der Hand. Och nee! Auch noch so Bürokraten! Muss man es eigentlich immer so kompliziert machen?!

Ich werfe ein „Hi" in die Runde, stelle mein Gepäck an die Tür und geselle mich zu den anderen. Meine Mutter setzt gerade ihre Unterschrift unter irgendeinen ellenlangen Text. Bestimmt die Einverständniserklärung. Ich bin eben noch nicht achtzehn. Egal!

Auf dem Tisch liegt noch ein weiterer Packen Papiere und darauf ein Kuli. Ich würde jetzt mal schätzen, dass das mein Vertrag ist. Aber dass ich den unterschreibe, ohne ihn mir vorher ganz durchgelesen zu haben, können sie knicken. Ich bin ja schließlich nicht bescheuert und lasse mich einfach mal so über den Tisch ziehen!

„Guten Morgen, Josy. Auf dem Tisch liegt noch dein, Vertrag, den du unterschreiben müsstest", meinte Mr Morrison.

„Das dauert aber eine Weile, bis ich den durchgelesen habe ...", antworte ich und mache keinerlei Anstalten, ihn an mich zu nehmen. Einen kurzen Augenblick lang huscht ein Ausdruck der Verwirrung über sein Gesicht, dann Ratlosigkeit und schlussendlich kommt sein Lächeln wieder zurück. Es ist durchaus lustig anzusehen!

Generell ist es lustig zu sehen, wie manche Leute aussehen, wenn man etwas tut oder sagt, mit dem sie gar nicht gerechnet haben. Ich muss mich jedes Mal auf's Neue zusammenreißen, um nicht irgendeinen Kommentar abzugeben. Ein Grinsen jedenfalls versuche ich gar nicht erst, zu unterdrücken.

„Nicht so wichtig. Das kannst du ja auch unterwegs machen. Wir müssten dann jetzt so langsam mal los." Er dreht sich zur Tür. Cool, wie er seine Unsicherheit übergeht! „Ist das dein ganzes Gepäck? Du weißt schon, dass wir eine ganze Weile unterwegs sein werden, oder?!" Er wirkt sichtlich überrascht.

„Natürlich!", antworte ich. „Klamotten, Sport und Technik. Mehr brauch ich doch nicht." Jetzt ist sein Gesichtsausdruck zum Schießen! Und nicht nur seiner, auch die Jungs gucken fassungslos. Auf Lucys Gesicht schleicht sich ein kleines Grinsen. Vielleicht kann ich sie ja noch ein bisschen auf die Schippe nehmen ...

„Na ja, oben steht noch mein Kosmetikkoffer. Der war aber so schwer, dass ich ihn nicht alleine runtergeschleppt bekommen habe ...", ich setze eine Unschuldsmiene auf und die Jungs und Mr Morrison stöhnen auf. Sie haben mir das doch tatsächlich abgekauft! Auf einmal ertönt schallendes Gelächter hinter mir, und als ich mich umdrehe, erkenne ich das vom Lachen krebsrote Gesicht meines Bruders vor mir. Er japst nach Luft und ich muss ebenfalls grinsen.

„Hahaha! Ihr habt ihr das echt abgekauft, oder?", fragt er und fängt wieder an zu lachen. Die Gesichter der anderen sind die reinsten Fragezeichen! Ich gebe meinem Bruder Highfive. Nun merken auch die anderen langsam, dass sie mir auf den Leim gegangen sind und bekommen einen mürrischen Gesichtsausdruck. Mr Morrison versucht normal zu wirken und Lucy hat noch immer ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ich vermute mal, dass sie es von Anfang an kapiert hat. Echt mal, sie braucht doch bestimmt einfach nur ein bisschen mehr Selbstbewusstsein! Meine Mutter hat sich die ganze Zeit ja ziemlich zurückgehalten. Ganz schön ungewöhnlich für sie ...

„Alles klar?", frage ich sie deshalb. Sie sieht mich an und seufzt. Oh oh ... jetzt kommt es. Was ist denn jetzt schon wieder falsch gewesen. Immer, wenn sie diesen Blick draufhat, kommt irgendetwas in die Richtung „musste das sein?" oder „du weißt, was ich davon halte". Also dieser typische Blick, nach dem Motto „ich kann es ja eh nicht ändern". Und die machten mich schon immer wahnsinnig!

„Ach ja ...", sie seufzt erneut. Okay, das ist neu. Fragend erhebe ich meine rechte Augenbraue und sehe sie mit schiefgelegtem Kopf an. Ja, diese Blicke kann ich gut. „Jetzt gehst du wirklich ... das habe ich in Gedanken in weite Ferne verdrängt. Du bist doch erst siebzehn." Ich rolle mit den Augen. Aber mal ernsthaft?! Diese Sprüche sollten verboten werden! „Du bist doch erst siebzehn!", äffe ich sie in Gedanken nach. Das ist doch mal wieder so typisch! In einem Jahr bin ich volljährig! Da kann ich sowieso machen, was ich will. Auch ausziehen. Wobei das echt bescheuert wäre, schließlich komme ich mit meinen Eltern eigentlich ganz gut klar. Und wo bitte gibt es sonst kostenfreies Essen und Wäsche? Nirgends, also! Trotzdem, diese Art von Sprüche sind der absolute Scheiß! Genervt sehe ich meiner Mutter ins Gesicht, doch sie geht gar nicht erst darauf ein, sondern zieht mich in eine feste Umarmung. Überrascht sehe ich über ihre Schulter meinen Bruder Jake an, doch der hat ebenfalls aufgehört zu grinsen. Vorsichtig streiche ich meiner Mutter über den Rücken. Jetzt bin ich schon einigermaßen verwirrt. Ich meine, ich ziehe ja nicht in den Krieg, sondern habe einen Job angenommen. Und ich bin ja schließlich nicht aus der Welt, wozu gibt es W-LAN und Telefon?

Als mich meine Mutter dann wieder loslässt, sehe ich sie aufmunternd an und wende mich Jake zu. Er sieht traurig aus. Und jetzt wird auch mir bewusst, dass es heißt, dass ich so schnell nicht wieder mit ihm rangeln oder Leute verarschen kann. Oh Mann! Jetzt werde selbst ich melancholisch! Ich zucke mit den Schultern, lächele ihn an und ziehe ihn in meine Arme.

„Wir skypen bald, okay?", flüstere ich ihm ins Ohr. Er nickt unmerklich. Es wird komisch werden, weil wir noch nie lange Zeit ohneeinander verbracht haben. Und das, obwohl er als mein jüngerer Bruder eigentlich ganz anders ist, als ich. Kurz drücke ich ihn noch ein bisschen fester an mich, dann lasse ich von ihm ab. Er sieht nicht wirklich glücklich aus und schnell drehe ich mich um, nehme meinen Vertrag und stopfe ihn achtlos in meinen Rucksack. Mit ihm und den beiden Koffern verlasse ich die Wohnung. Die Jungs, Lucy und Mr Morrison im Schlepptau.

Von meinem Vater habe ich mich gestern schon verabschiedet. Das Problem bei ihm ist, dass er leider so gut wie immer geschäftlich verreisen muss. Erst vorgestern ist er heimgekommen und gestern musste er schon wieder weiter fliegen. Das ist schade, aber leider nicht zu ändern. Und er nimmt sich deshalb auch häufiger Urlaub, damit er ganz für seine Familie, also uns, da sein kann.

Die Tür schließt sich hinter uns, ich verstaue die Koffer im Kofferraum des Wagens neben einer ganzen Menge anderer Taschen und setze mich zu den anderen auf die geräumige Rückbank des Minivans. Die Türen schließen sich, der Motor startet und der Wagen fährt los. Dann werfe ich noch einen Blick auf das Haus, das ich wohl erst mal für lange Zeit nicht mehr sehen werde.

Was ist eigentlich schiefgelaufen...?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt