Und schon steht das erste Spiel an. Hier in Frankfurt spielen wir gegen England. Am Morgen wache ich in aller Herrgottsfrühe auf, wir fast immer an Länderspieltagen. Ich kann es nicht abstellen, aber irgendwie scheint es zu einem Ritual zu werden. Zumindest das was danach folgt. Wie schon so oft ziehe ich mir einen Pulli und eine Jogginghose über meinen Schlafanzug und gehe raus auf den Balkon. Dort setze ich mich auf den Boden und genieße einfach die Ruhe. Ich habe es schon vor mehreren Länderspielen gemacht. Angefangen bei der U-20 WM, mache ich es immer noch. Ich merke einfach, dass es mir gut tut. Ich kann etwas runterfahren und werde nicht schon früh am Morgen nervös. Ich will diese ruhigen Momente draußen in der morgendlichen Kälte vor Länderspielen nicht mehr missen wollen. Meine Gedanken wandern zurück zur U-20 WM. Es ist schon krass wie ich es von da bis hier her zur A-Nationalmannschaft geschafft habe. Es war mein erstes internationales Turnier und eines, dass mir am Ende vieles über mich selbst gelehrt hat. Und jetzt darf ich mich A-Nationalspielerin nennen. Das ist schon ein großer Schritt. Aber ein Schritt, bei dem ich mich wohlfühle. Ich bin wieder mit mir im reinen und kann wirklich sagen, dass ich mich extrem auf das heutige Spiel freue. Ich zucke zusammen als sich die Balkontür öffnet. Melly tritt raus auf den Balkon und setzt sich neben mich. ,,Na? Sitzt du wieder in der Kälte rum?“, fragt sie. ,,Ja. Es ist schon irgendwie ein Ritual geworden.“ ,,Das ist schön. Für mich wäre das nichts, aber wenn es dir etwas bringt, dann ist das sehr gut.“ Ich nicke. Es bringt mir definitiv etwas.
,,Lou, bleibst du nochmal kurz da?“, hält Martina mich zurück. Wir hatten gerade unsere Spieltagsbesprechung. Ich bedeutet Jule, dass sie draußen auf mich warten soll. Dann bleiben nur noch Martina und ich zurück. ,,Ich will dich gar nicht lange aufhalten“, beginnt sie. ,,Alles gut“, erwidere ich. ,,Du bist wirklich ein sehr sensibler Mensch. Das ist etwas tolles. Doch das kombiniert mit deinen noch jungen Jahren macht es mir manchmal etwas schwer. Du hast dich im Training wirklich sehr gut geschlagen. Und ich habe dich auch definitiv nicht umsonst nominiert. Du denkst wahrscheinlich, dass du überhaupt keine Chance hast es in den Olympia Kader zu schaffen. Das stimmt aber nicht. Du hast sehr wohl noch eine Chance, denn deine Art zu spielen ist eine ganz besondere. Das hast du wieder im Training bewiesen. Ich weiß, dass ich dich auf manche Dinge vorbereiten sollte und deswegen will ich dir jetzt schon sagen, dass du heute Abend eingewechselt werden wirst. Ich will, dass du Spielminuten bekommst und ich will auch, dass du das weißt und dich darauf einstellen kannst und dich nicht nachher damit überfordere.“ ,,Ähm, Dankeschön“, sage ich etwas unsicher. Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. ,,Alles gut?“ ,,Ja. Ich hätte das nur nicht erwartet. Ich muss ehrlich sagen, dass ich wirklich nicht mit einer möglichen Nominierung für Olympia rechne. Ich weiß, dass ich noch so unerfahren bin und auch kaum Länderspiele bestritten habe. Aber ich freue mich natürlich zu hören, dass ich heute spielen darf.“ ,,Du bist nicht unerfahren. Du hast schon einiges durchgemacht und vor allem schon ganz früh tolle Erfahrungen gemacht. Denk zum Beispiel an das Champions League Spiel gegen Manchester City. Und heute wirst du neue Erfahrungen gegen England machen“, meint Martina. ,,Dankeschön.“ Ich bin etwas überfordert mit der Situation. ,,Aber jetzt auf. In einer halben Stunde gibt es Mittagessen. Bis dahin habt ihr ja noch Freizeit.“ Schnell verlasse ich den Besprechungsraum. Auch wenn es etwas überfordernd war, bin ich trotzdem froh, dass Martina das Gespräch gesucht hat. Ich werde mir zwar weiterhin keine Hoffnungen auf einen Platz im Olympiakader machen, aber trotzdem ist es schön, dass sie mir das so offen gesagt hat. Bei Martina ist es so, dass sie sehr transparent in solchen Einzelgesprächen ist und die Dinge, die sie sagt, wirklich so meint. ,,Und? Was wollte MVT?“, fragt Jule. ,,Ich darf nachher spielen“, sage ich grinsend. ,,Wirklich? Wie cool ist das denn?! Das hast du echt verdient“, meint Jule und zieht mich an sich. Dann schaut sie sich kurz um, beugt sich zu mir runter und küsst mich. Genau das brauche ich jetzt. Und gleichzeitig bin ich dankbar, dass sie sich davor umgeschaut hat, um sicherzugehen, dass da niemand ist. Wir müssen einfach aufpassen, aber trotzdem brauchen wir unsere Momente zusammen.
Auf dem Weg ins Stadion werde ich etwas nervös. Immerhin ist es nur ein Freundschaftsspiel. Würde es jetzt noch um etwas gehen, wäre der Druck dann echt hoch. So weiß ich, dass, egal wann ich reinkomme, ich einfach meine Leistung bringen soll ohne die ganz großen Anforderungen. Das nimmt mir schon etwas Druck. Wobei ich mir den Druck sie immer nur selbst mache. Beim Aufwärmen verschwindet die Nervosität dann aber wieder. Die Atmosphäre ist einfach gigantisch. Der Deutsche Bank Park ist ausverkauft und auch wenn noch nicht alle Zuschauer da sind, ist die Stimmung jetzt schon grandios. Das wird ein tolles Spiel werden. Vor allem weil Deutschland gegen England schon immer ein Klassiker war. Und dazu kommt, dass die englische Mannschaft immer noch unglaublich stark ist. Das wird ein Duell auf Augenhöhe.
Schon geht es los. Es ist fast schlimmer das Spiel von der Bank aus zu verfolgen, als auf dem Platz zu stehen. Allerdings ist das bei jedem Spiel so. Dennoch starten wir gut ins Spiel. Schon früh können die Mädels Druck ausüben. Sie laufen die englische Abwehrkette sehr hoch an, was bei denen zu einigen Unsicherheiten führt. Doch noch schaffen sie es nicht ein Tor zu erzielen. Es ist ärgerlich, da sich wirklich gute Chancen ergeben. Und dann endlich ist es soweit. Svenni treibt den Ball auf ihrer rechten Seite vorwärts und bekommt dann Platz zum Flanken. Im Strafraum steht Jule, die hochsteigt und den Ball mit dem Kopf ins Tor befördert. Auch wir auf der Bank springen auf und fallen uns in die Arme. Auch wenn es um quasi nichts geht, gibt es immer eine Anspannung, die existiert bis das erste Tor fällt. Und mich freut es natürlich ganz besonders, dass es Jule war, die das Tor geschossen hat. Mittlerweile ist sie zur Stammspielerin gereift und das sowas von verdient. Dieses Tor wird ihr noch mehr Sicherheit geben. Aber die Freude hält nicht lange an. Nur wenige Minuten nach der Führung kann England den Ausgleich erzielen. Dann geht es schon in die Halbzeit Pause. Während die Startelfspielrinnen in die Kabine gehen, machen wir Auswechselspielerinnen uns auf den Weg auf den Platz, um mit unserem zweiten Aufwärmen zu beginnen. ,,Lou, 60. Minute“, sagt Martina, als sie zurück auf den Rasen kommt. Ich nicke und begebe mich so zu Wiederanpfiff zu unserem Aufwärmbereich abseits des Spielfelds.
Und so stehe ich jetzt da an der Seitenlinie und bekomme die letzten Anweisungen. ,,Leah Williamson ist gut, aber wirst an ihr vorbei kommen. Auch sie hat ihre Schwachstellen, die haben wir ja analysiert. Spiel deine Tempo Vorteile aus und ganz wichtig, hab Spaß“, meint Martina. Dann wird auch schon gewechselt. Wie in meinen zu vorigen zwei Länderspielen komme ich für Lea und spiele damit im Sturmzentrum. So muss ich wirklich gegen eine Leah Williamson, englische Kapitänin und Innenverteidigerin, durchsetzen. Das wird schwer werden, aber die Herausforderung nehme ich gerne an. Wie kontrollieren das Spiel wieder mehr. Zwar hat auch England seine Ballbesitzphasen, aber sie können kaum etwas gefährliches damit anzufangen. Wir hingehen schon. Ich sehe wie Feli Jule mit einem langen Ball in Richtung Straftraum schickt. Also beginne ich zu rennen, damit Jule auch einen Abnehmer finden wird. So kann ich mich von Leah lösen. ,,Jule, spiel!“, brülle ich ihr zu. Sie spielt den Ball. Nach meiner Wahrnehmung stehe ich nicht im Abseits. Jetzt stehe ich allein vor dem Tor. Ich sehe, was die Torhüterin vorhat und tue genau das, was sie nicht denkt. Dann zappelt der Ball im Netz. ,,Ja!“, rufe ich und renne zu Jule rüber. Ohne ihre Vorarbeit wäre das so nicht passiert. ,,Ganz stark!“, grinst Jule und hebt mich hoch. Auch die anderen Mädels kommen auf uns zu gerannt und umarmen mich. Dieser Teamspirit ist einfach unglaublich. ,,Stolz auf dich“, meint Feli noch, als wir zurück in unsere Hälfte laufen. Und das Spiel ist noch nicht vorbei. England kommt nicht mehr ins Spiel und sind ihrem zweiten Treffer deutlich weiter entfernt, als wir unseren dritten. Die Schlussphase ist schon voll im Gange und wir bekommen nochmal einen Eckball. Feli geht zur Eckfahne, um diese auszuführen und winkt mich zu sich. ,,Lass uns die kurze Variante aus dem Training gestern spielen“, sagt sie und hebt dann drei Finger, damit es auch die anderen Mädels mitbekommen. Feli tritt die Ecke, die als kurzer Pass zu mir kommt. Ich spiele wieder zu ihr zurück und renne dann in Richtung Strafraumkante. Dort bekomme ich den Ball wieder und sende einen Chipball in den Strafraum. Dieser kommt nicht ganz da an, wo ich ihn haben wollte, aber Melly legt den Ball nochmal für Svenni ab, die im Chaos den Überblick behält und den Ball ins Tor schiebt. Es gibt nichts schöneres als Varianten von Standardsituationen, die voll aufgehen. Vor allem wenn dadurch die Entscheidung fällt. Wenige Minuten später ist das Spiel aus.
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Flowers need time to bloom
FanfictionEineinhalb Jahre später hat sich vieles für Lou verändert. Nachdem sie sich zurückgezogen hat und in aller Ruhe ihr Abitur gemacht hat, kommt sie wieder in die erste Mannschaft des VfL Wolfsburg und versucht einen Neustart. Rasant geht es aufwärts u...