58 | Terrasse

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,,Lou!“, ruft Jule und fällt mir um den Hals. ,,Jule!“ Ich weiß gar nicht warum, aber meine Stimme ist nicht lauter als ein Flüstern. Wahrscheinlich weil ich kaum reden kann, so sehr drücken Jule und ich uns aneinander. Realisiert habe ich das alles noch überhaupt nicht. Viele Schlaf habe ich auch nicht bekommen. Ich bin zwar recht früh ins Bett, da ich ja wusste, dass ich früh raus muss, aber das hat exakt nix gebracht. Ich kann die ganzen Gedanken immer noch nicht wirklich ordnen. Ich wurde nicht nominiert. Tabsi verletzt sich so unglücklich. Dann werde ich nachnominiert und jetzt stehe ich wieder hier in Herzogenaurach, komplett überfordert und auch ziemlich müde. Ich habe versucht im Shuttle etwas zu schlafen, aber auch das hat nicht funktioniert. Letztendlich habe ich ziemlich lange mit Eva telefoniert, die sich nochmal erkundigen wollte, wie das jetzt alles läuft und mir gut zugeredet hat. Wahrscheinlich war eher letzteres der Grund, warum sie angerufen hat. Irgendwie hat das Gespräch gut getan, aber gleichzeitig hat es das alles nur bedingt besser gemacht. Ich werde auch von Feli und Pia begrüßt, die gemeinsam mit Jule am Homegrund auf mich gewartet haben. Dann kommt auch Martina. ,,Hallo Lou. Schön, dass du so schnell da bist“, begrüßt sie mich. ,,Hallo. Ich freue mich wirklich über dieses Chance, auch wenn ich die Umstände wirklich nicht schön finde“, erwidere ich. ,,Ja, das ist echt schade, dass Tabea so etwas passieren musste. Sie ist bis heute Abend noch hier. Du kannst also nochmal kurz mit ihr reden.“ ,,Oh ja. Wie ist dann der restliche Tagesablauf? Wann trainieren wir dann?“, frage ich. ,,Heute Nachmittag erst. Du trainierst heute allerdings individuell. Nachdem du die letzten Tage hoffentlich etwas langsamer angehen lassen hast, wäre es ein zu großes Risiko dich voll mittrainieren zu lassen“, erklärt Martina. Ich nicke. Das klingt gut. Vor allem, weil ich doch etwas fertig bin.

,,Komm, ich bringe dich zu unserem Häuschen“, meint Jule. Feli und Pia laufen ein Stück mit uns und verabschieden sich dann in ihre eigenen Häuschen. Wir sind in dem gleichen Häuschen wie schon beim ersten Lehrgang. Irgendwie erleichtert mich das. Ich bin immerhin in einem halbwegs gewohnten Umfeld. ,,Wir sind wieder da“, ruft Jule ins Haus hinein, nachdem sie die Tür geöffnet hat. ,,Hallo!“, tönt es aus dem Wohnzimmer. Dort sitzen Sara und Merle vor ihren Laptops. Wahrscheinlich geht es um irgendwelches Zeug für die Uni. ,,Merle ist jetzt auch bei uns mit im Haus“, erklärt Jule. Ich nicke. Ist auch ziemlich offensichtlich, wenn ,,Wir schlafen wieder in einem Zimmer. Etwas anderes würde ja keinen Sinn machen.“ Jule zwinkert mir zu und dann gehen wir vollends rüber uns Wohnzimmer. ,,Hey! Ich hoffe, du bist gut angekommen“, meint Sara und umarmt mich kurz. Auch Merle nimmt mich in den Arm. ,,Cool, dass du zu uns ins Haus kommst.“ ,,Find ich auch. Ich denke, Martina wollte Jule und mich wieder zusammen lassen. Da bin ich auch voll ihrer Meinung“, sage ich. Jule drückt mich an sich. ,,Ist wahrscheinlich auch wirklich gut so.“ ,,Oh ja.“ Ich brauche Jule. Und jetzt mehr denn je. Mich überfordert das gerade ungemein.

Nachdem ich mich etwas eingerichtet habe, gibt es auch schon Mittagessen. Jule und ich sind auch wieder im gleichen Zimmer wie schon letzte Woche, so dass ich mir nicht Mal viele Gedanken machen musste, wo was hinkommt. Dann geht es in die Mensa im Hauptgebäude. Wir sind fast zu spät, da wir die Zeit etwas vergessen haben, so dass die meisten sich schon in Grüppchen zusammengesetzt haben. Feli winkt und zu und deutet an, dass für Jule und mich noch ein Platz bei ihr, Melly und Svenni frei ist. Tabsi sitzt leider woanders. Vielleicht ist es aber wirklich besser, wenn ich mit ihr alleine rede und nicht wenn alle anderen mit im Raum sind. Direkt nach dem Essen gehe ich auf sie zu. ,,Tabs, können wir kurz reden?“, frage ich sie. ,,Klar. Schön, dass du da bist“, antwortet sie. Während die meisten der anderen für ihre Mittagspause zurück in ihre Häuschen gehen, setzen Tabsi und ich uns auf die Terrasse des Hauptgebäudes. Um ihren Fuß ist eine feste Schöne angelegt und sie läuft mir Krücken. Es tut weh sie so zu sehen. Ich weiß wie es ist, verletzt zu sein. Ich weiß nur nicht, wie es kurz vor einem großen Turnier. Und das will ich auch gar nicht wissen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Tabsi gerade gehen muss. Sie sieht auch ziemlich fertig aus. ,,Wie geht’s dir?“, erkundige ich mich. ,,Naja. Es tut schon ziemlich weh. Nachher fahre ich dann nach Wolfsburg und dort wird dann ein MRT gemacht. Dann weiß ich wenigstens, was Sache ist. Gerade ist es einfach nur bitter….“ Ich sehe, dass sie mit den Tränen kämpft. Es muss so schwer für sie sein. ,,Das tut mir einfach so Leid für dich. Du hast das einfach nicht verdient. Du hast so lange dafür gekämpft, in der Natio mit zur ersten Wahl zu gehören und hättest jetzt dein drittes Turnier spielen können und dabei eine so wichtige Rolle tragen können. Und dann macht eine Aktion alles kaputt. Ich will mir gar nicht vorstellen müssen, wie sich das anfühlt.“ Tabsi legt ihren Kopf an meine Schulter und ich lege meinen Arm um sie. ,,Ich muss aber auch sagen, ich könnte mir keinen besseren Ersatz vorstellen, als dich. Ich weiß, dass du kein Ersatz, sondern eine eigene Spielerin mit ganz eigenen tollen Qualitäten bist, aber du weißt wie ich es meine. So bitter und traurig es für mich ist, ein kleiner Teil in mir kann dich auch schon für dich freuen, dass du deine Chance bekommst“, sagt sie leise. ,,Danke dir. Ich freue mich irgendwie schon jetzt das Turnier spielen zu dürfen, aber ich hätte nie im Leben gewollt, dass es so zu Stande kommt. Du hättest es viel mehr verdient gehabt zu spielen als ich“, erwidere ich. ,,Sag das nicht so. Letztendlich haben wir es beide verdient, aber das Leben hat manchmal eigene Pläne. Und ich weiß ja auch, dass ich dich voll unterstütze, bei allem was jetzt auf dich zukommt. Du wirst das mit Bravour meistern und ich stehe immer voll hinter dir.“ ,,Dankeschön. Ich habe es dir gestern schon geschrieben, aber ich werde in jeder möglichen Sekunde Spielzeit, die ich bekomme für dich mitspielen. Du bist immer in meinem Herz mit dabei und stehst mit uns auf dem Platz“, sage ich. ,,Und genau dafür weiß ich dich so zu schätzen. Du wirst das großartig machen Lou!“

Am Nachmittag steht dann meine erste Trainingseinheit an. Wie angekündigt trainiere ich mit unserer Co-Trainerin Britta individuell. Mir tut das gut, denn ich bin bei weitem nicht so weit, dass ich heute voll trainieren könnte, vor allem mental nicht. Da muss ich wirklich erst nochmal eine Nacht drüber schlafen. Tabsi ist für die Einheit noch da geblieben und schaut uns zu. Ich finde das einfach nur unglaublich stark von ihr. Vorhin habe ich deutlich gesehen, wie schlecht es ihr gerade geht, wie traurig sie ist. Und trotzdem bleibt sie da, schaut uns zu und unterstützt uns. Und gleichzeitig würde sie am liebsten selbst auf dem Platz stehen. Ich bin jetzt an ihrer Stelle hier. Mein Ziel für dieses Turnier ist für mich klar. Ich will nicht so und so viel Spielzeit erreichen. Ich will nicht so und so viele Tore erzielen. Ich will Tabsi gut vertreten und sie stolz machen.

Flowers need time to bloomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt