20. Kapitel- Mitternachtsblau

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Die Tränen wollten gar nicht mehr aufhören zu fließen, doch das war nicht schlimm. Mike verurteilte mein Verhalten nicht, im Gegenteil. Er zog mich fest an sich, strich mir sanft über den Rücken und schwieg. Worte waren nicht nötig, es genügte seine bloße Anwesenheit. Er war da, mehr brauchte ich nicht. Ich hielt mich an dem Kragen seines Oberteils fest. Es war schön. So nah hatte ich schon lange niemanden mehr gespürt, doch es fühlte sich gut an.
Dass wir beide Männer waren, wurde mir auch immer gleichgültiger. Hier sah uns niemand, keiner war hier, der hätte urteilen können und ganz ehrlich? Ach, wie war ich es leid, mir immer über so etwas Gedanken zu müssen. Ich wollte nicht mehr denken, weder über Kai, noch über den Körperkontakt mit einem Mann.
Ich merkte nicht, wie die Zeit verstrich, doch es muss lang gewesen sein, denn allmählich wurde es dämmerig draußen. Noch immer streichelte Mike meinen Rücken zärtlich. Keine Sekunde war er von meiner Seite gewichen, dafür war ich ihm so unendlich dankbar. Ob mein Verhalten ihn nervte? Sicher tat es das. Mit roten Augen blickte ich zu dem Größeren hoch, um mich von meiner Vermutung zu überzeugen. Doch zu meinem Überraschen schien er nicht genervt, eher besorgt, so wie seine eisblauen Augen in meine schauten. Tief in meine Seele. Mit dem Daumen strich Mike die letzten Tränen von meinen Wangen. Sein Lächeln war so beruhigend, heilend. „Ich hab dich lieb.", sprach er mit weicher Stimme und mir wurde ganz warm ums Herz. Mike war so ein guter Mensch und ich mochte ihn, doch kannte ich ihn erst seit einigen Tagen. Genau deshalb konnte ich so etwas noch nicht sagen. Solche Worte hatten doch Bedeutung und man sollte sie nur sagen, wenn man sich sicher war, oder? Nun, ich war mir nicht sicher. Zudem hatte ich den Jüngeren ja nur mit zu mir genommen, weil er geweint hatte und keinen anderen Ort für sich wusste. Zugegeben, ich lag bereits jetzt in seinen Armen, was gewiss etwas zu intim für diese kurze Bekanntschaft war, doch was blieb mir anderes übrig? Ich hatte doch selbst keinen, zu dem ich hätte gehen können, jetzt, wo Kai mich verlassen hatte. Darum ließ ich es zu, ich ließ alles zu.
„Du denkst schon wieder zu viel nach, was?", bemerkte Mike und holte mich aus meinen Gedanken, was wohl auch besser so war. Ich kannte diesen Jungen erst seit kurzem und hatte ihn bereits nackt gesehen! Als mir das nun auffiel, wusste ich gar nicht, ob ich erschreckt oder belustigt sein sollte. Seltsam war es auf jeden Fall!
„Ja, obwohl ich gar nicht will! Am liebsten würde ich mal alles vergessen und einfach den Moment genießen.", seufzte ich und lehnte meinen Kopf gegen seine Brust. Er strich mir übers Haar. „Da hab ich 'ne super Idee für uns!" Stirnrunzelnd blickte ich zu meinem Freund hoch. Was er wohl jetzt wieder vorhatte?
„Ab ins Bad mit dir. Wir gehen unter Leute!", lachte er und tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Ich zuckte zusammen und begann unwillkürlich zu kichern. Dieser Idiot steckte wirklich volle Überraschungen. Unter Leute gehen? Ich wusste gar nicht, was ich davon halten sollte. Wohin es wohl genau ging?
Ich erhob mich vom Sofa und tapste in Richtung Schlafzimmer, um mir die passende Kleidung zusammen zu suchen. Was sollte ich anziehen? Gingen wir in ein Restaurant? Dann wäre wohl ein Anzug das Beste. Doch wie sollte sich Mike so etwas leisten? Nein, vielleicht gingen wir ins Kino oder in ein Museum? Zu viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf, sodass ich nicht einmal merkte, wie mein Blick noch immer auf Mike lag. Die Tür weckte mich dann jedoch, als ich ohne Warnung gegen sie lief. Es gab ein dumpfes Geräusch, als mein Kopf an das Holz knallte. Weh tat es allerdings nicht, nur peinlich war es. Und wie peinlich es war! Sofort röteten sich meine Wangen und ich wandte die Augen von Mike ab, verschwand möglichst schnell in meinem Zimmer. Verdammt! Immer musste mir so etwas passieren! „Pass doch mehr auf, Isaac!", schimpfte ich leise über mich selbst und suchte nach schönen Klamotten.
Mein Kleiderschrank war weder besonders groß, noch übertrieben voll. Ich hatte nicht das Geld dazu, mir jeden Monat neue Sachen zu kaufen. Ganz davon abgesehen hatte ich auch keine Lust darauf. Hatte doch alles, was ich brauchte.
Ich nahm mir einen Kleiderhaken, an dem eine Anzugjacke und -hose hing. Das kam auf jeden Fall in die engere Auswahl! Nun griff ich mir noch einen Smoking. Was sollte ich von beiden nehmen? Einen Augenblick überlegte ich, bevor ich mich für den mitternachtsblauen Anzug entschied.
Schließlich zog ich mich ins Bad zurück, stieg unter die Dusche und begann danach mich anzuziehen.
„Darf ich herein kommen?", klopfte er nur wenig später an der Tür. Gerade band ich mir noch die Krawatte. Dies war der letzte Schritt, dann würde ich fertig sein. Ich bejahte die Frage also und präsentierte mich stolz meinem Freund. Keine Sekunde hatte ich daran gezweifelt, dass ihm meine Kleiderwahl gefallen würde. Mit einem Anzug kann man ja nichts falsch machen, hatte ich mir gedacht. Tja... anscheinend hatte ich mich einmal mehr getäuscht, denn der Schrecken war Mike förmlich ins Gesicht geschrieben. „I...ist was?", fragte ich vorsichtig und biss mir auf die Unterlippe. Sah ich etwa nicht gut aus? Dabei hatte ich mir doch solche Mühe gegeben! „Nein, das nicht! Du siehst wirklich gut aus, aber es ist so, ich habe vor, mit dir feiern zu gehen und naja... sowas kann man da unmöglich anziehen.", versuchte er mir behutsam zu sagen, dass ich mich wohl doch etwas unpassend gekleidet hatte. Ich schluckte schwer. Feiern also. Oh Mann, das war mir jetzt doch irgendwie unangenehm. Hätte er doch vorher sagen können, wo es hin ging, doch selbst dann... ich wusste gar nicht, was man beim Feiern trug. „Kannst du mir vielleicht beim Aussuchen der Sachen helfen?", überwand ich mich dann aber doch. Was blieb mir auch anderes übrig? Allein hätte ich das doch eh nicht hinbekommen.
„Klar." Sein Lächeln war so beruhigend, so voller Freude und Glückseligkeit. Kaum zu glauben, dass das bloße Lachen einen anderen Menschen so froh machen konnte. Er nahm meine Hand- seine war ganz warm und weich- und wir machten uns auf, zurück in mein Zimmer.
Mike suchte in meinem Schrank nach etwas passenderem, während ich auf meinem Bett lag und ihm verträumt zu sah. „Wie ist das so? Auf einer Party, mein ich.", fragte ich mit sanfter Stimme und rollte mich auf den Rücken, blickte zur Zimmerdecke hinauf. Ob Mike dann mit mir tanzen wollen würde? Vielleicht. Der Gedanke ließ mich kichern. Wie man wohl tanzt? Das konnte ja heiter werden! „Wirst du sehen!", war seine Antwort Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um zu ihm zu schielen, doch was er da tat, gefiel mir überhaupt nicht. Er zog eine Schublade auf und ich rief noch: „Nein! Nicht da hinein gucken!" Doch es war schon zu spät. Ich konnte es nicht mehr verhindern. Rasch setzte ich mich auf und er grinste mich an. „Lass das!", fauchte ich, doch es störte ihn nicht. Belustigt sah er auf die Unterhosen hinab, die er gerade entdeckt hatte. „Du hast ja gar keine Männer-Tangas!", bemerkte er kichernd und ich lief knallrot an. „Bitte was?!", entgegnete ich perplex, doch er freute sich nur darüber. Gemein!
Kurz darauf beschloss Mike einfach, einige meiner Klamotten etwas abzuändern und was soll ich sagen, ich hab ihm mein Einverständnis gegeben. Ich suchte ihm eine alte Jeans heraus und er begann sofort damit, sie fröhlich mit einer Schere zu bearbeiten. Zudem lieh er mir eins seiner Tank-Tops.
„Zieh dich mal aus. Ich muss gucken, wie die Hose angezogen aussieht.", sprach Mike und hielt mir die Jeans hin. Bitte?! Ich sollte mich ausziehen?! „E..etwa vor dir?", fragte ich unsicher und er nickte. „Klar, du hast mich immerhin auch schon nackt gesehen. Also hab dich nicht so.", winkte er ab, doch ich schüttelte nur den Kopf. Unmöglich! Ich konnte mich doch nicht vor jemandem umziehen! Nein, das ging nicht. Mike seufzte. „Gut, dann dreh ich mich solange um. Aber beeil dich, ja?" Ich nickte dankend und nahm mir die Hose. Nachdem er seinen Kopf abgewandt hatte, ließ ich meine Anzughose zum Boden hinab gleiten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich war ganz verlegen. Für viele war es sicher keine große Sache, doch ich hatte mich noch nie in Begleitung umgezogen. Rasch zog ich mich auch obenrum um. Dann hatte ich es wenigstens hinter mich gebracht und da Mike nur einige Zentimeter größer als ich war, passte mir sein Tank-Top sogar recht gut! Das war irgendwie alles neu, doch ich hatte kaum eine Wahl. „F...fertig."
Er drehte sich zu mir und zog die Augenbrauen hoch. Einen Moment hielt Mike die Luft an und starrte mich einfach zu mir. „W..wow..", hauchte er und ich atmete beruhigt aus. Es schien ihm zu gefallen! Nun wollte ich es aber auch mal sehen! Ich trat vor den großen Wandspiegel und betrachtete mich.
Oh mein Gott! War das sein Ernst?! Noch kürzer und ich könnte gleich nackt gehen! Die Hose war gerade lang genug, um die kurze Unterhose zu verdecken. Das Tanktop verdeckte meinen Bauch, das war es dann aber auch. Die Seiten und der Rücken lagen offen. Selbst der Ausschnitt vorn war tief. „So kann ich doch nicht raus gehen! Ich sehe total billig aus!", beschwerte ich mich bei meinem Freund, doch er winkte nur ab. „Ich finde, es sieht gut aus. Und da wo wir hingehen, laufen alle so herum. Die Mädchen stehen total auf sowas!", versicherte mir Mike. Na ob das stimmte war fraglich. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und schloss die Augen für einen Moment. „Aber Isaac, ich würde wirklich gern in diesen Club. Ich hab so viel im Kopf. Das mit meinen Eltern, der ganze Stress. Du siehst so schön aus, bitte begleite mich doch. Sei für mich da." Seine blauen Augen wurden gläsern und Tränen bildeten sich, überliefen sein Gesicht. „N...nicht.", flüsterte ich und umarmte ihn zögerlich. Oh nein! Er sollte doch nicht weinen! „Ja gut, ich geh ja mit dir. Bitte sei nicht traurig. Der Abend wird sicher toll!", versuchte ich ihn zu trösten und es schien zu funktionieren. Mike lächelte mich dankend an und verschwand nun auch nochmal für einige Minuten im Bad um sich umzuziehen. Mann... dieser Junge war wohl doch anstrengender als erwartet, aber das war nicht schlimm. Ich mochte ihn trotzdem. Er war lieb.
Ich nahm mir den Wohnungsschlüssel und suchte nach einer Hosentasche, um ihn sicher zu verstauen. Doch Taschen schien diese Hose gar nicht zu haben, na super. Gut, dann musste ich den Schlüssel wohl unter der Fußmatte verstecken, denn mitnehmen war anscheinend nicht möglich.
Ich strich mir über die Jeans. Viel zu kurz war die! Naja, wenn es Mike gefiel. Das heute würde das erste Mal werden , dass ich auf eine Party ging. Wie es wohl war? Langsam wurde ich nervös.
„Gut, wir können los.", nickte Mike. Er trug ebenfalls ein Tank-Top, doch in einer anderen Farbe. Dazu eine dunkle Jeans, mit vielen Ketten und Gürteln daran. Es sah schon ziemlich cool aus, aber auch das wäre wohl nichts für mich gewesen. Ich war glaub' nicht so der auffällige Typ, fühlte mich gerade wirklich sehr unwohl in meiner Haut. Dennoch durfte und wollte ich meinen Freund nicht enttäuschen, also schwieg ich über dieses Thema. Immerhin hatte er sich heute so gut um mich gekümmert, ich war ihm etwas schuldig. Wer weiß, vielleicht würde es mit ihm ja gar nicht so schlimm werden. Er hielt meine Hand beim Verlassen der Wohnung, ich versteckte den Schlüssel und hörte ihm zu, während er erzählte. Wir liefen das Treppenhaus hinab, zogen die Haustür hinter uns zu und traten hinaus in die abendliche Dämmerung. Party, wir kommen...

Liebe?! Lieber nicht! ||Boyslove Yaoi~♡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt