•dreißig•

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Es reichte der wilde Blick in seinen Augen, um mich wieder in jenen Moment in der Schule zurückzuversetzen. Jener Moment, in dem ich nicht gewusst hatte, was auf mich zukommen würde. Ich hatte mich mit etwas konfrontiert gesehen, das ich mir nicht erklären konnte. Ich war hilflos gewesen und das hatte mich panisch gemacht.
Erneut fand ich mich in einer Situation, in der ich hilflos war. Aber merkwürdigerweise verfiel ich dieses Mal nicht in die gleiche Panik, die ich gespürt hatte, als Cavyn mich erschreckt hatte. Ob das wohl damit zusammenhing, dass sich mein Verständnis für diese andere Welt verstärkt hatte?
Zugegebenermaßen würde es mir schon deutlich mehr helfen, wenn ich wüsste, was die Männer und Frauen um mich herum waren.
Der Psycho sah aus, als erwartete er eine Reaktion von mir. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich in Verzweiflung und Lebensangst geriet. Ich tat ihm den Gefallen, indem ich hektisch von einem zum anderen blickte.
Vielleicht konnte mir das ein wenig Zeit verschaffen, um herauszufinden, mit wem ich es hier zu tun hatte. Ich wusste zwar nicht, wie mir das helfen sollte, aber mit etwas Glück bekäme ich einen Geistesblitz und könnte mich so aus dieser scheinbar ausweglosen Situation befreien.

Ich ließ meinen Blick zwischen den Personen umherschweifen. Das Erste, was mir auffiel, war, dass alle eine gewisse Bleichheit teilten. Auch jene, die einen dunkleren Hautton als ich besaßen, erschienen mir etwas fahl. Besonders auffällig war das um die Augen herum. Augen, die unüblicherweise rot waren. 
Ich erinnerte mich, dass mir diese Besonderheit auch schon früher bei meinem Aufeinandertreffen mit dem Psycho aufgefallen war. Ebenso wie seine spitzen Reißzähne.
So unauffällig wie möglich untersuchte ich die Zähne meiner Bedroher. Unglücklicherweise schien keiner von ihnen gewillt, mir seine Zähne zu offenbaren. Ich bemerkte jedoch die spitzen Fingernägel, die ebenfalls alle teilten.
Es bedurfte nicht viel, um mich wieder an das Gefühl ebendieser Nägel in meiner Haut zu erinnern. Ein Schauer überlief mich. Keine angenehme Erinnerung.
Mit all den Merkmalen, die ich hatte sammeln können, dürfte es ja nicht allzu schwer sein, meine Bedroher einer Spezies zuzuordnen. Menschen konnte ich wohl ausschließen.
Sie waren auch nicht so wie ich, zumindest hoffte ich das stark, denn ich konnte mir wesentlich bessere Dinge vorstellen, als plötzlich lange Fingernägel und Reißzähne zu bekommen.
Eine Zuordnung würde mir wohl deutlich leichter fallen, wenn ich wüsste, was es neben Menschen noch so gab. Leider hatte sich Eduard Schöff nie wirklich für andere magische Kreaturen interessiert.

Versprich mir, dass du immer auf dich Acht gibst, Lilli. Besonders in der Nacht, hörst du? Die Wesen der Dunkelheit sind uns nicht gerade freundlich gesinnt. Wenn du nicht aufpasst, werden sie kommen und dich holen.
Ich runzelte die Stirn, als ich mich an die Reaktion meiner Mutter auf den Film “Twilight” erinnerte. Es hatte mich verwirrt, dass sie diese Geschichte so ernst genommen hatte und sich nicht einfach - so wie ich - in Edward verliebt hatte. Vielleicht weil sie wusste, dass mehr hinter Vampiren steckte als eine gruselige Gute-Nacht-Geschichte für unartige Kinder. 
Vielleicht weil sie gewusst hatte, dass sie tatsächlich existierten.
Ich konzentrierte mich auf meine Atmung und gab mir Mühe, so gut wie möglich zu verstecken, dass ich gerade realisiert hatte, dass die Männer und Frauen, die mich umzingelten, Wesen waren, die total auf mein Blut abfuhren. Ob es das war, hinter dem sie her waren? 
Jagten Vampire immer in Gruppen? Lauerten sie ihren Opfern immer neben der Schule auf, weil ihnen die Vorstellung, jede Minute erwischt zu werden, einen Kick gab?
Es wäre wahrscheinlich eine gute Idee, diese Fragen nicht laut zu stellen. 
Also was tun? Mitspielen? Das klappte vielleicht mit dem Psycho, aber ich war mir nicht sicher, ob alle Vampire darauf ansprangen? Ich könnte sie hinhalten. Aber mit welchem Ziel? Wer garantierte mir, dass irgendjemand nach mir sehen würde? Ich hatte keine Ahnung, was Mr. Schöff trieb. Beah und Veronica würden sich nichts denken, wenn ich nicht nach Hause kam. Das passierte häufiger. Mein Vater würde sich erst recht nicht wundern.

Und Kian hatte mir gestern nicht den Anschein gemacht, als hätte er gerade die Zeit, nach mir zu sehen. Abgesehen davon war es wohl sehr unwahrscheinlich, dass er einfach so in der Schule nach mir suchen würde. Ich musste mir wohl selbst helfen.
“Man vergisst seinen Stalker nicht so leicht”, erwiderte ich.
Der Psycho schmunzelte und tat meine Antwort mit einem Wischen seiner Hand ab. “Ich habe dich doch nicht gestalkt. Ich musste lediglich ein Auge auf dich haben und beobachten, ob du zu einer Gefahr werden würdest.”
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich gefährlicher und unzurechnungsfähiger als Vampire sein konnte. Obwohl ich gerade ein ganzes Gebäude zum Wanken gebracht hatte - ungewollt. Vielleicht war ich doch nicht so harmlos, wie ich es zu sein glaubte.
“Und? Was ist deine Expertise?” Ich gab mir Mühe, nur dem Psycho meine Aufmerksamkeit zu widmen. Mich interessierte, ob es die anderen wohl stören würde, wenn ich sie nicht einmal für einen Augenblick ansah. Vielleicht konnte ich so auch herausfinden, wer hier das Sagen hatte.
“Sieh dich um”, forderte er mich mit einem Grinsen auf, das sogleich verschwand. “Wirkt das hier für dich, als würden wir in dir keine Gefahr erkennen?”
Ich zuckte mit den Schultern und folgte seiner Aufforderung nicht. “Ich dachte mir, du wolltest mir schlichtweg deine Freunde vorstellen.”
“Wir sind nicht hierhergekommen, um eine nette Konversation zu betreiben”, zischte eine junge Frau, die rechts von mir stand. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich ein nervöses Zucken ihrer Hände. Als wollten ihre Hände etwas tun, von dem die Frau wusste, dass sie es nicht durfte.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt