•fünfundzwanzig•

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Ich ließ mich von Kian durch das Haus führen. Allein für das Erdgeschoss benötigten wir so lange, dass Kian entschied, es erst einmal dabei zu belassen. Am Ende unserer Tour kehrten wir in den Eingangsbereich zurück, wo ich mich auf ein Sofa fallen ließ und den Kopf in den Nacken legte, um die hohe Decke so besser anstarren zu können.
Kian setzte sich nicht. Stattdessen sah ich im Augenwinkel, wie er sich an den Türrahmen mir gegenüber lehnte und mich beobachtete.
Wir verweilten in Stille, die mich dazu veranlasste, mich zu fragen, weshalb ich hier war. Weshalb ich hier mit Kian war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er jeden zu sich ins Haus einlud. Genauso wunderte es mich, dass er sofort bereit war, alles stehen und liegen zu lassen, um heute in der Schule für mich da zu sein. Ebenso schien er auch nicht mehr allzu erpicht darauf zu sein, zu erfahren, was gestern geschehen war. Angesichts seiner gestrigen Reaktion im Physikunterricht hatte ich von ihm mehr erwartet. Nicht dass mich seine Zurückhaltung groß störte. Sie verwunderte mich eher, denn sie passte nicht zu dem Kian, den ich in den letzten Wochen kennengelernt hatte.
Ich löste den Blick von der Wand, um ihn auf den Jungen vor mir zu richten, der diesem mit wartenden Augen begegnete.
Während wir einander ansahen, geschah das, was mir schon öfter bei unseren Blickkontakten aufgefallen war. Meine Umgebung mitsamt ihren Geräuschen und Gerüchen rückte in den Hintergrund. Überforderten mich alle Sinneseindrücke, die ich sammelte, dann brauchte es nur Kians Augen, um sie mich vergessen zu lassen.
Und das verstand ich nicht.

"Du kannst mich fragen, wenn du etwas wissen willst." Kian sprach ruhig und verständnisvoll, löste aber keine Sekunde unsere Verbindung.
"Aber du kannst mir nicht garantieren, dass ich eine Antwort auf meine Frage erhalte", entgegnete ich.
Daraufhin versteifte sich Kians Miene etwas und erneut bekam ich das Gefühl, dass er mir gegenüber ehrlich sein würde, wenn er es dürfte.
Plötzlich bemerkte ich, dass ich mich schuldig fühlte, weil ich Kian ständig vorwarf, mir nicht die Wahrheit zu sagen. Dabei wusste ich nicht, wer es ihm verboten hatte und vor allem warum. Andererseits konnte mir das theoretisch egal sein. Es war schließlich nicht so, als wäre ich ein integriertes Mitglied in dieser Gemeinde und müsste mich deshalb wegen jeglicher Vorkommnisse hier direkt betroffen fühlen.
Trotz dieser Gedanken stellte ich Kian eine Frage, auf die er mir hoffentlich antworten konnte. "Warum bin ich hier?"
So einfach, wie ich diese Frage geglaubt hatte, schien sie dann doch nicht zu sein. Kian stieß sich von der Wand ab, wandte jedoch im gleichen Augenblick den Kopf, sodass er meinem Blick auswich.
"Ich wollte dich von der Schule fortbringen, da du dich dort offensichtlich nicht wohl fühltest."
"Das meine ich nicht. Warum hast du mich hier hingebracht?" Ich deutete auf unsere Umgebung. "Zu deinem Zuhause?"

Durch Kians Reaktion befiel mich immer mehr das Gefühl, ich traf gerade einen Punkt, den er lieber umgangen wäre.
Er presste die Zähne fest aufeinander, als er sich neben mich setzte. Es schien, als wollte er diese Frage lieber nicht beantworten, würde es aber dennoch tun, weil er das Gefühl hatte, es mir schuldig zu sein. Ich hatte nicht vor, ihn von dieser Schuld zu befreien.
"Eigentlich wollte ich dich nicht hierher bringen. Das war nicht mein ursprünglicher Plan. Der wäre gewesen, mit dir ein wenig zu fahren und dich dann, wenn es für dich in Ordnung gewesen wäre, bei dem Haus deines Vaters abzusetzen. Dann erzähltest du mir, dass du dich dort nicht zuhause fühlen würdest und irgendwie hat mich das unbewusst dazu verleitet, dich zu mir zu fahren. Vielleicht wollte ich dir mein Zuhause zeigen. Vielleicht wollte ich, dass du hier ein bisschen zuhause empfindest." Zum Ende hin wurde er immer leiser, als wollte er eigentlich nicht, dass ich seine Erklärungen hörte.
Seine Intentionen überraschten mich, obwohl sie nur das verdeutlichten, was ich bisher von Kian erfahren hatte. Seine Zuvorkommenheit, seine Fürsorge, seinen Beschützerinstinkt. Dennoch fand ich es schön, zu wissen, dass ich ihm sogar so wichtig war, dass er diesen Schritt für mich ging.
Ich räusperte mich, bevor ich Kians Hand nahm und ihn anlächelte. "Danke, das ist sehr nett von dir."

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt