•sechsundfünfzig•

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Ich rannte. Rannte durch den Wald. Rannte, als gäbe es kein Morgen mehr. Vielleicht rannte ich auch, um dafür zu sorgen, dass es für mich noch ein Morgen gab. Ich war mir schon lange nicht mehr sicher.
Ich bildete mir ein, warmen, widerlichen Atem an meinem Nacken zu spüren. Vielleicht war es auch die Wirklichkeit. Allein die Angst, es könnte keine Einbildung sein, ließ mich noch schneller laufen. Immer in dem Wissen, dass, völlig egal, wie schnell ich sprintete, ich nie davon laufen konnte. Doch ich war noch nicht bereit, aufzugeben. Ich hatte nicht vor, mich in die Hände dieses Ungeheuers zu übergeben.
Zähne zerrissen mein Oberteil. Es war nur eines der vielen Anzeichen, dass ich keine Chance hatte. Es war mir egal. Ich lief schneller. Natürlich nützte es nicht. Beinahe hätte ich aufgelacht. Was bildete ich mir auch ein? Gab es tatsächlich noch einen kleinen Funken Hoffnung in mir, der daran glaubte, hier meinen Plan durchsetzen zu können?
Schwach, flüsterte mir eine Stimme zu. Schwache Vorstellung, schwaches Mädchen.

Es kam immer näher. Es, das Ungeheuer, das mich verfolgte. Das meine Freiheit und mein Wille nicht weniger interessieren könnte. Dem Monster, dem es nur darum ging, mir zu zeigen, dass ich nicht genug war. Nicht genug, um mich selbst zu schützen. Nicht genug, um andere zu schützen. Ich war nicht einmal in der Lage, ihm erfolgreich zu entkommen.
Ich konnte nicht gewinnen. Die Angst übermannte mich, als mir bewusst wurde, dass ich mich nicht länger anzulügen brauchte. Sie lähmte mich, flüsterte mir zu, einfach loszulassen. Es wäre einfacher. Dieses Leben konnte mich nicht glücklich machen. Was hatte ich schon, das mich hier hielt?
Aber ich konnte nicht. Irgendetwas hielt mich hier. Es befahl mir, weiterzukämpfen. Es würde kommen, mich holen, mir helfen.
Als würde das Ungeheuer hinter mir spüren, was in mir vorging, knurrte es auf. Als hätte es ebenfalls mitbekommen, was der Wind mir zugetragen hatte. Das Knurren zusammen mit dem warmen Atem in meinem Nacken - von dem ich mir nun sicher war, ihn mir nicht einzubilden - ließ mich unachtsam werden. Ich lenkte meinen Fokus von meiner Umgebung zu dem Vampir hinter mir. Nur ein kurzer Blick, der mir sagte, wie nah das Monster mir schon gekommen war.

Ein fataler Fehler.
Mein Fuß stolperte über eine Wurzel. Ich fing mich auf, meine Hand brannte, als sie über einen spitzen Stein rutschte. Zischend atmete ich ein. Ich war mir sicher, mein Blut über meine Hand sickern zu spüren. Als bräuchte mein Jäger noch mehr Ansporn, mich zu fassen zu kriegen.
Wie als Antwort darauf ertönte ein dumpfes Lachen hinter mir. Das Knurren entfernte sich nicht. Es klang jetzt anders. Nicht mehr wütend, nicht mehr ungeduldig. Nein, der Vampir genoss das hier. Er spielte mit mir. Spielte mit seinem Hunger nach meinem Blut. Mit seinem Verlangen nach meinen Fähigkeiten.
Das Monster hatte nicht vor, mich jemals aus seinen Fängen zu lassen. Egal, wie lange es dauern würde. Egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte. Es kam nur noch näher, entließ mich nicht aus seinem Griff.
Keine andere Beute war so aufregend wie ich.
Kein Ziel verführerischer.
Ich war sein Preis, sein Maskottchen, das er unbedingt ganz für sich haben musste.

Ich musste es abhängen. Doch wie konnte ich gegen diese Kreatur gewinnen?
Ich war ein Nichts. Ein Niemand. Nicht stark und auch nicht überlebensfähig. Nicht in dieser Welt.
Und doch kämpfte ich. Weil ich wusste, dass es jemanden gab, der an mich glaubte. Der nicht zulassen würde, dass ich mich aufgab. Dass ich mich verlor. Er war mein sicherer Ort, den ich gesucht hatte. Zu ihm wollte ich.
Ein Baum stockte mich und ich bog scharf um eine Kurve.
Austricksen konnte ich es dadurch nicht. Es war, als ob es meine Bewegungen und Reaktionen kannte, noch bevor ich mich dazu entschied. Ich war nicht schnell genug, nicht gewitzt genug. Zu vorhersehbar.
Aber ich würde nicht aufgeben. Nicht jetzt, wenn ich ein klares Ziel vor Augen hatte. Das trieb mich nur noch mehr an. Ich ignorierte den Schmerz in meiner Hand und wie geschunden mein Körper nun aussehen musste. Nichts davon war wichtig. Ich musste zu ihm.

Dem Vampir war bewusst, dass sich etwas in mir verändert hatte. Ich bewegte mich nun anders als noch zu Beginn unseres Spiels. Zielgerichteter. Nun hatte ich einen Plan. Und es spielte für mich keine Rolle, ob dieser erfolgreich sein würde. Ich wollte ihn nur sehen.
Das Ungeheuer wusste, dass ich etwas vorhatte. Ohne Willen, ohne Ziel war ich ein leichtes Opfer gewesen. Aber jetzt war ich noch gewillter zu kämpfen. Er wusste es und handelte dementsprechend.
Deshalb konnte ich nicht verhindern, dass er nach meinem Arm schnappte. Um mich bei sich zu behalten und mir jegliche Hoffnung wieder aussaugen zu können.
Der Schmerz betäubte mich. Lediglich ein Keuchen kam über meine Lippen. Mehr konnte ich mir mit meiner Konzentration nicht erlauben. Ich riss meinen Arm trotzig fort von seinen Nägeln.
Über die nächste Wurzel sprang ich. Zu hoch, zu naiv. Die folgende sah ich nicht kommen. Meine Sehkraft war zu schlecht, kam nicht gegen die der Kreatur an. Vielleicht hatte sie das genau so geplant. Dass ich abgelenkt wäre von dem Wissen, dass er mich beinahe geschnappt hätte. Ich hatte einen weiteren Fehler begangen. Obwohl ich mir keinen einzigen erlauben konnte.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt