•dreiundzwanzig•

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Am nächsten Tag in die Schule zu gehen, war für mich deutlich schwerer, als ich angenommen hatte.
Mein Morgen begann schon beschissen, als sich mein Alptraum wieder etwas erweiterte, indem ich nun glaubte, in der Ferne spitze Zähne aufblitzen zu sehen. Das half meiner Verdrängung des gestrigen Tages nicht wirklich. Ich versuchte, Erklärungen für das zu finden, was ich gesehen hatte. Vielleicht hatte der Psycho einfach enorme Zähne an den Ecken. Das konnte vollkommen normal sein. Oder aber ich hatte mir in meiner Panik gestern das alles einfach nur eingebildet. So sehr ich mich an beiden Varianten festklammern wollte, mein eigener Verstand ließ mich nicht.
Ich bildete mir so etwas nicht ein. Und ich konnte schon immer dem vertrauen, was ich mit eigenen Augen erblickt hatte.
Vermutlich musste ich mich einfach der Realität stellen: Meine Vermutungen bezüglich Sellwyll und seiner Bewohner könnten wahrer nicht sein. Irgendetwas stimmte mit ihnen nicht.
Es gab nun schon so viele Hinweise. Kians komische Andeutungen, das Verhalten meines Vaters, die Artikel, die ich gefunden hatte und das Aufeinandertreffen gestern.
Blieb nur noch die Frage, wie ich mich nun verhalten sollte. Persönlich tendierte ich stark zur einzig sicheren Option: Beide Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich verschwinden.
Aber wohin? Zu meiner Großmutter? Die Wahrscheinlichkeit war zu groß, dass sie meinen Vater informieren würde. In ein Hotel? Ich war noch nicht achtzehn, das könnte also unangenehme Fragen aufwerfen.

Im November wurde ich achtzehn. Ich wartete noch so lange, versuchte das alles hier irgendwie zu überstehen - möglichst ohne weitere blutige Vorkommnisse - und verschwand dann. Das bedeutete jedoch, dass ich die Schule wenige Monate vor meinem Abschluss schmiss.
Verdammt. Aber war mir die Schule wichtiger als mein Leben?
Vielleicht musste ich mir eher eine ganz andere Frage stellen. Könnte es sein, dass ich möglicherweise gerade in Panik verfiel und gerade nicht in der Lage war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen? Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich hoch.
Vermutlich wäre es eine klügere Idee, sich ein anderes Mal mit der Idee zu beschäftigen, wann man am besten von einem Ort verschwand, der einem nicht geheuer war.
Mit diesem Entschluss war ich soweit zufrieden, dass ich meine Gedanken diesbezüglich, inklusive des Psycho, in eine Schublade steckte, mit dem Schlüssel sicherheitshalber drei Mal zu schloss, und somit aus dem Weg schaffte.
Die Schule war voll von Menschen - oder auch nicht? -, sodass ich einige Schwierigkeiten hatte, mir meinen Weg durch sie hindurch zu bahnen. Die Pause hatte ich drinnen auf der Toilette verbracht, weil ich den anderen aus dem Weg gegangen war. Mich jetzt auch noch mit der Frage zu beschäftigen, ob sie eventuell ebenfalls nicht die waren, die sie zu sein schienen, würde mein Gehirn endgültig zum Platzen bringen.

Nervös warf ich immer wieder einen Blick über die Schulter. Ich redete mir zwar ein, dass ich das immer tat, aber insgeheim wusste ich, ich achtete paranoid darauf, den Psycho nicht in meiner Nähe zu haben. Glücklicherweise hatte ich ihn heute noch nicht einmal zu Gesicht bekommen, sodass ich stark hoffte, er wäre mit einer geschwollenen Nase und einem gebrochenen Fuß zu Hause. Nicht dass ich jemandem etwas Schlechtes wünschte, aber an den Psycho würde ich definitiv keine Träne vergießen.
Als ich an meinem Spind ankam, konnte ich mir gerade so ein erleichtertes Aufseufzen verhindern, da ich eine weitere Etappe heute unbeschadet überstanden hatte.
Ich nahm mir das alles wohl mehr zu Herzen, als ich gedacht hatte. Aber das Gefühl, in der Schule nicht mehr sicher zu sein, war nun auch keines, über das man schnell hinweg kam.
Eine Hand auf meiner Schulter sorgte in Windeseile dafür, dass die Schublade aufsprang und mich mit allem überflutete, was vor ungefähr vierundzwanzig Stunden passiert war.
Ich fuhr herum, hatte wieder ein Buch in der Hand und schlug, ohne weiter darüber nachzudenken, erneut zu.
Erst das schmerzerfüllte Jaulen ließ mich innehalten und auf den vermeintlichen Angreifer blicken. Es war Cavyn.
"Meine Güte! Du schlägst aber ordentlich zu", beschwerte er sich, während er über seine Schläfe rieb.

Mein Atem ging schnell und Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Ich war noch so in Kampfbereitschaft, dass ich es nicht in mir hatte, mich zu entschuldigen.
"Ich habe dir doch gesagt, du sollst aufhören, dich an mich anzuschleichen", fauchte ich ihn an. Das Buch in meiner Hand ließ ich zurück in meinen Spind fallen. Meine Beine gaben beinahe unter mir nach, als mich die Erkenntnis erreichte, dass nicht schon wieder jemand versuchte, mir wehzutun. Gleichzeitig begriff ich etwas ganz anderes. Ich war absolut paranoid. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern und Mr. Kepp würde mich anrufen, um zu fragen, wie es mir so in dem neuen Ort erging.
"Habe ich nicht", protestierte Cavyn. "Ich bin ganz normal gegangen. Du hörst einfach nicht so gut."
"Ganz recht. Und das unterscheidet mich schon mal stark von euch, denn ihr seid ja offensichtlich alle mit einem Supergehör ausgestattet." Ich raufte mir die Haare, als würde mir das helfen, wieder runter zu kommen. Ich wollte mich entschuldigen wegen meines harten, beleidigenden Tonfalls, konnte mich aber nicht dazu durchringen.
Cavyn ging nicht auf meinen Kommentar ein. Offensichtlich hatte er aus der Vergangenheit gelernt.
"Ich wollte dich lediglich suchen, weil du eben nicht bei uns standest. Wir haben uns Sorgen gemacht."
"Ihr müsst euch nicht ständig Sorgen um mich machen, als wäre ich eine kleine, gebrechliche Puppe, die nicht ohne eure Hilfe klarkommt." Obwohl ich mich gerade ungefähr so gut bewegen konnte wie eine gebrechliche Puppe.

Cavyn kam mir vorsichtig etwas näher und fragte leise: "Lilith, geht es dir nicht gut?"
"Ehrlich gesagt, kann ich das gerade nicht so einschätzen. Aber ich befürchte, dass ich gleich zusammenklappe, also beantworte dir die Frage doch am besten selbst." Ich richtete meinen Blick auf die Fensterfront mir gegenüber. Ich kämpfte mit mir, um nicht den Verstand zu verlieren, um nicht erneut ein Naturereignis herauf zu beschwören, um allen zu beweisen, dass ich auch ohne psychologische Behandlung klar kam. Deswegen kam mir keine Lüge über die Lippen.
Langsam näherte sich jemand Neues von links. Als wollte die Person mich nicht verschrecken, tastete sie sich immer weiter an mich heran. Meine Panik stieg nicht, denn der beruhigende Duft von Meerwasser und Minze stieg mir in die Nase und besänftigte mich.
"Lilith", wisperte Kian und wartete, bis ich ihn ansah. "Wie fühlst du dich?"
Im Augenwinkel bemerkte ich, wie Cavyn Kian zunickte und dann verschwand.
"Nicht so prächtig. Ich versuche gerade, dass ich mich nicht übergebe und dann zusammenklappe."
"Von mir aus kannst du dich übergeben und vor dem Zusammenklappen würde ich dich auffangen."
"Danke", murmelte ich, während ich mich immer weiter in seinen Augen verfing. "Das ist sehr zuvorkommend."
Kian lächelte leicht. "Gerne. Ich sagte dir doch, ich bin für dich da."
"Richtig", erinnerte ich mich, "das hab ich in all der Aufregung wohl vergessen."

Kian wurde ruhig, sodass ich schnell nur noch meinen eigenen Atem hörte. Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich sicher und schaffte es so, meine Panik immer weiter in den Griff zu bekommen.
"Kannst du mir sagen, was dich so aus der Fassung gebracht hat?"
Diese Frage machte meinen Fortschritt schnell zunichte, denn ohne die abgeschlossene Schublade hinderte nichts und niemand meine Gedanken daran, Karussell in meinem Kopf zu spielen.
Er erkannte den Wechsel meiner Stimmung und beeilte sich zu sagen: "Aber das musst du nicht. Lass uns vielleicht später noch einmal darüber reden."
Kian blieb die nächsten Minuten in meiner Nähe. Er achtete auf meine Atmung und stützte mich, sobald meine Beine den Geist aufgaben.
Ich konnte nicht einschätzen, wieviel Zeit vergangen war, als er vorschlug: "Wie wäre es, wenn wir den Rest des Unterrichts schwänzen? Ich nehme dich mit."
Unterricht..., auf den konnte ich jetzt wirklich verzichten. Vor allem Mathe. Es war mir nicht möglich, mir vorzustellen, dass ich dafür noch genügend Konzentration aufbringen konnte.
Dennoch... "Ich bin in letzter Zeit ziemlich häufig zu spät zum Unterricht gekommen. Ich weiß nicht, ob ich mir das erlauben kann", äußerte ich meine Zweifel.
"Ich kümmere mich darum. Du wirst nicht von der Schule fliegen und ich werde dafür sorgen, dass dein Vater nichts davon mitbekommt."
Das war exakt das, was ich hören wollte. Denn insgeheim wusste ich, dass ich dringend aus dieser Schule raus musste, um mich wieder in den Griff zu kriegen. "Okay."

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt