•einundvierzig•

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Das Geräusch ließ die neue Kreatur sich zu mir herumdrehen. Als sorgte sie sich um mich. Doch es waren ihre gelbbraunen Augen, die mich gefangen hielten und mich Hoffnung schöpfen ließen. Ich konnte es noch schaffen. Mit seiner Hilfe konnte ich das hier überstehen.
Es war die Hoffnung, die mich das Ungeheuer übersehen ließen. Die mich nur entsetzt die Augen aufreißen ließ, als es seine Reißzähne in seine Haut rammte. Ich streckte die Hand aus. Er musste sich festhalten. Nicht loslassen. Ich wollte nicht Schuld sein. Nicht sein Verderben bedeuten.
Die gelbbraunen Augen sahen meine Hand an. Doch er handelte nicht. Er ließ sich von mir wegzerren. Um mich zu beschützen. Mich zu retten. Auch wenn es sein Ende bedeutete.
Fassungslos verfolgte ich sie mit meinem Blick. Das Ungeheuer ließ nicht locker. Es wollte ihn in den Tod bringen.
Er wollte, dass ich verschwand. Dass ich die Gelegenheit nutzte. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte ihn nicht alleine lassen. Nicht nach allem, was er für mich getan hatte.
Ich krabbelte auf sie zu, hinter ihnen her. Es durfte ihn mir nicht wegnehmen. Mit aller Kraft warf ich mich auf das Ungeheuer und schlug auf ihn ein. Seine roten Augen erwarteten mich bereits. Seine Zunge strich hungernd über die spitzen Reißzähne, als genösse es schon jetzt die Vorstellung, mich langsam und qualvoll zu töten.
Meine Vernunft schrie mich an, umzudrehen, mich zu retten. Aber ich konnte es nicht. Trotz meiner Wut, meiner Enttäuschung, meiner Trauer über seinen Verrat konnte ich ihn nicht hier lassen. Das hatte er nicht verdient. Dafür bedeutete er mir noch zu viel.
Es war diese Einsicht, die Erkenntnis, dass ich ihm verzeihen wollte, die mich das silberne, schimmernde Band vor meinen Augen plötzlich klar sehen ließ...

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"Ich habe noch einmal über die Seelenverwandschaftssache nachgedacht", unterbrach ich die Stille, die zwischen Kian und mir im Auto herrschte. "Können nur Werwölfe Seelengefährten haben?"
Kian bog an einer Kreuzung rechts ab. Er kannte den Weg zu mir nach Hause nun schon auswendig, nachdem er mich jeden Abend nach unserem Training dorthin fuhr. Ich hatte ihm zwar erklärt, dass dies nicht notwendig sei, aber er ließ nicht mit sich reden. Ich konnte ihn gerade so davon abhalten, mich auch noch ins Haus zu begleiten. Das wäre mir dann doch etwas unangenehm. Ich war mir sicher, dass mein Dad und Veronica dann einige Fragen stellen würden, auf die ich selbst keine Antwort hatte und denen ich deshalb lieber aus dem Weg gehen würde. Wahrscheinlich konnte ich mich schon glücklich schätzen, dass mein Vater so erfreut davon war, dass ich Zeit mit meinen Freunden verbrachte, dass er gar nicht auf die Idee kam, zu fragen, was wir denn eigentlich taten.
"Nein, bis auf die Menschen kann jeder einen Seelengefährten haben", antwortete Kian mir schließlich.
Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er schien nicht wirklich glücklich über das Thema zu sein, das ich angesprochen hatte.

Als er den Kopf zu mir wandte, sah ich schnell weg. Zu häufig passierte es, dass, wenn sich unsere Blicke trafen, sich irgendeine Verbindung zwischen uns aufbaute. Sie brachte mich stets aus dem Konzept. Hinzu kam, dass ich in den letzten Tagen so viel Zeit mit Kian verbracht hatte wie noch nie zuvor. Und dann war er immer so schrecklich unterstützend und verständnisvoll. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass ich mich in seiner Gegenwart so wohl fühlte wie bei keinem anderen. Jedes Mal, wenn ich bei unseren Treffen auf der Wiese meine Geduld verlor, war Kian da, redete auf mich ein und zeigte mir, dass uns nichts und niemand stresste. Wenn das so weiter ginge, befürchtete ich, bald nichts mehr gegen das warme Gefühl in meiner Magengegend und die Freude in meinem Herzen unternehmen zu können, wenn er bei mir war.
"Nur untereinander?", fragte ich ihn rasch weiter aus. "Also finden sich beispielsweise nur zwei Seelenverwandte in Werwölfen? Und welche in Vampiren? Oder gibt es auch Überschneidungen?"
"Normalerweise bleiben die Arten auch in diesem Aspekt eher unter sich." Kian gab sein Bestes, sich nicht ansehen zu lassen, dass er lieber einen Themenwechsel anstreben würde. Was mich überraschte. Ich verstand nicht, warum er nicht darüber sprechen wollte. Er hatte schließlich gestern zu erkennen gegeben, dass er einiges darüber zu wissen schien.
Die Tatsache, dass er, obwohl es ihm unangenehm war, mir meine Fragen beantwortete, war ein weiteres Beispiel für die Dinge, die er tat, die mein Herz schneller schlagen ließen.

"Normalerweise?", wiederholte ich fragend.
Er zuckte mit den Schultern. "Es kann immer Ausnahmen und besondere Fälle geben. Deswegen wollte ich das nicht ausschließen."
"Kennst du denn Ausnahmen? Also hast du schon mal davon gehört, dass es sowas mal geben hat?" Ich sprach, bevor ich darüber nachdenken konnte. Warum zum Teufel wollte ich so etwas von ihm wissen? Das konnte mir doch egal sein, ob es Überschneidungen gab.
"Nein", kam seine ernüchternde Antwort.
Ich runzelte die Stirn. "Warum glaubst du dann trotzdem daran?"
"Seit Kurzem habe ich gelernt, dass nicht alles so unmöglich ist, wie es zu sein scheint. Es gibt immer ein erstes Mal, warum also nicht auch hier?"
Darauf wusste ich keine Antwort.
Bevor ich die Gelegenheit bekam, eine weitere Nachfrage zu stellen, meinte Kian in einem nun sanfteren Tonfall: "Ich wollte gerne auch noch etwas ansprechen. Es ist aber vollkommen okay, wenn du nicht darüber reden willst." Er sprach erst weiter, als ich ihm kurz zunickte und er sich räusperte. "Heute vor zwei Monaten ist deine Mutter gestorben. Im Gegensatz zum ersten Monat scheinst du heute... nicht ganz so emotional aufgewühlt."

"Du hast recht", stimmte ich ihm zu, verwundert, dass er sich gemerkt hatte, wann meine Mum gestorben war. "Vor einem Monat waren die Dinge noch anders. Jetzt habe ich das Gefühl, mehr Fuß gefasst zu haben. Ich habe Freunde, bin kein Mensch. Vielleicht hatte ich jetzt mehr Gelegenheit, mich emotional mit ihrem Tod auseinanderzusetzen."
Zeit hatte ich dafür zwar nicht gehabt. Aber es war dennoch geschehen. Denn Kian hatte recht. Noch vor einem Monat hatte mich die Erinnerung an Mums Tod mehr mitgenommen. Es bestand in der Tat die Möglichkeit, dass ich ihre Abwesenheit jetzt mehr begriffen hatte. Dass ich in der Lage war, diese nun besser zu verarbeiten, weil ich Personen in meinem Leben hatte, die mir dabei halfen. Mich dabei unterstützten, in Erinnerung an meine Mutter nicht nur an ihren Tod zu denken, sondern auch an alle Jahre, die ich mit ihr zusammen verbracht hatte.
Kian ging weder auf meine Ausführungen ein, noch auf die Tatsache, dass ich nicht ausgesprochen hatte, was ich war, sondern mich darauf fokussiert hatte, was ich nicht war. Für beides war ich ihm dankbar. Stattdessen war er ruhig, als wüsste er, dass ich mich gedanklich mit der Frage auseinandergesetzt hatte, was sich innerhalb eines Monats für mich verändert hatte.

"Hat deine Mutter etwas damit zu tun, dass du Musik so sehr magst? Ich meine, es ist irgendwie naheliegend, weil sie dir so viel bedeutet und dir Musik auch ziemlich wichtig zu sein scheint." Zum Ende hin wurde er immer schneller, als wäre ihm seine Schlussfolgerung unangenehm. Generell hatte ich das Gefühl, dass er heute etwas abgelenkter war. Die Stimmung im Auto war eine andere als die letzten Tage. Er wirkte nicht so locker wie sonst.
"Auch da hast du mal wieder recht." Ich lachte kurz, als wäre es ein Versuch, die Atmosphäre aufzulockern. "Meine Mum hat mir früher sehr viel vorgesungen. Auch bei unseren Spaziergängen hat sie manchmal einfach begonnen zu singen. Sie hat eine wundervolle Stimme. Mitunter kam es mir so vor, als würde sich die Natur freuen, wenn sie ihre Stimme hörte. Als ich vierzehn wurde, begann ich, ab und zu mitzusingen. Nicht immer und auch nur, wenn ich mich danach fühlte. Aber ich habe es sehr gerne getan. Ich habe bekannte Lieder gesungen oder mir einfach Texte ausgedacht."

Ich lächelte in der Erinnerung daran, wie ich mich früher gefragt hatte, ob es nur Einbildung wäre, dass sich mir ein Leberblümchen mehr entgegen streckte, wenn ich leise zu ihm gesungen hatte.
Ein Blick nach links zeigte mir, dass Kian mich ansah. Genauer gesagt war sein Blick auf meinen Mund fokussiert. Er sah mich so an, als gäbe es in diesem einen Moment nichts Bedeutenderes. Als wäre ihm sogar die Luft zum Atmen um uns herum egal, denn das Einzige, was er zum Leben benötigte, war mein Lächeln. Dieses Gefühl gab er mir, als seine Hände das Lenkrad abwesend fester umfassten. Erst ein Hupen hinter uns brachte ihn dazu, an der Ampel bei Grün weiterzufahren.
"Und singst du jetzt immer noch?", wollte er von mir wissen, als er in meine Straße einbog.
"Nein. Ich habe seit Monaten nicht mehr gesungen. Die Vorstellung hat sich immer falsch angefühlt."
Ich dachte an den Moment von eben zurück, an dem Kian so fasziniert von dem Lächeln auf meinen Lippen gewesen war, dass er vergessen hatte, dass er weiterfahren musste. Dass er auf offener Straße stand und eigentlich besseres zu tun haben müsste, als mich anzusehen. "Aber ich glaube, ich würde mal gerne wieder singen."

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt