•vierzehn•

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"Lilith." Die mahnende Stimme meines Vaters vor meiner Zimmertür brachte mich nicht dazu, meinen Liegeplatz auf der Veranda zu verlassen. Noch weniger sorgte sie dafür, dass ich ihm den Eintritt in mein Zimmer gewährte. Das hatte ich ihm bereits nach seinem ersten Klopfen deutlich gemacht. Und auch nach dem zweiten.
Mein Tag war schon so schlimm genug gewesen, dass ich nicht noch ein Gespräch unter vier Augen mit meinem Vater brauchte. Nach meiner gestrigen Unterhaltung mit Kian war ich wieder dazu übergegangen, ihn zu ignorieren. Ein absonderliches Ereignis, nachdem er sehr starke Gefühle in mir geweckt hatte, war Zufall. Ein zweites brachte mich zum Nachdenken. Vor allem wollte ich weitere Vorkommnisse diesbezüglich vermeiden. Da bei beiden Kian und ich beteiligt waren, musste ich weitere Aufeinandertreffen verhindern. Das bedeutete, ich sah ihn weder an noch sprach ich mit ihm. Wenn es ging, vermied ich sogar Nähe. Auf den Pausen heute hatte ich mich jedes Mal so weit wie möglich von ihm entfernt platziert. Das war auch ein Erfolg gewesen.
Trotzdem konnte das nicht die lauten Fragen in meinem Kopf klären. Wieso weckte Kian in mir so starke Emotionen? Weshalb wurde immer etwas zerstört, wenn wir uns nahe kamen? Was war wirklich los in dieser Stadt?

Besonders die letzte Frage beschäftigte mich. Da ich auf die beiden anderen nämlich bisher noch keine Antwort hatte finden können, beschränkte ich mich auf jene, die mir wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis hatte geben können. Ich hatte im Internet nach einer offiziellen Seite für die Stadt Sellwyll gesucht und sie tatsächlich auch gefunden. Angesichts des Webdesigns vermutete ich zwar, dass die Seite von strickenden Großeltern betrieben wurde, aber ich hatte dennoch etwas herausgefunden. Es hatte sehr lange gedauert. Also wirklich... sehr lange. Ohne ein Inhaltsverzeichnis hatte ich nicht nur suchen müssen, wo man etwas über die Vergangenheit dieser Stadt lesen konnte, sondern auch noch stundenlang herunterscrollen müssen, bis ich etwas Interessantes gefunden hatte. Im Jahre 1998 hatte es ein beunruhigend hohes Tiersterben gegeben. Dazu zählten nicht nur die Wildtiere, auch Hunde, Katzen und andere typische Haustiere wurden gerissen. Der damalige untersuchende Kommissar hatte dies als ein natürliches Phänomen bezeichnet, dem nicht entgegengewirkt werden sollte.
Etwas später hatte ich ein ähnliches Ereignis in den Jahren 1993, 1986 und 1984 gefunden. Noch interessanter war aber, was 1977 geschah. Jugendliche, die campen gegangen waren, um so ihren Abschluss zu feiern, waren alle getötet worden. Ein Mädchen war nach dem Angriff im Krankenhaus gestorben, konnte aber vorher noch die Aussage machen, dass sie eine Frau gesehen hatte, bevor das Chaos begann.

Zusätzlich zu dem Artikel hatte ich noch einige verstörende Fotos gefunden. Danach brach ich die Suche ab. Diese Stadt hier war anscheinend ziemlich anfällig für Wildangriffe. Das war wohl nicht verwunderlich, schließlich hatte ich im Wald auch einen Wolf gefunden. Es wäre nicht überraschend, wenn Wölfe hinter diesen Angriffen steckten.
Das ergab auf den ersten Blick alles Sinn für mich. Zudem sollte es eigentlich beruhigend sein, dass nach 1998 nichts dergleichen geschehen war. Die Stadt hatte wohl ihre Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Doch das Puzzle bildete trotzdem kein sinnvolles Bild. Kians Aussagen über Sellwyll, insbesondere über seine Bewohner, ließen mich schlussfolgern, dass es noch mehr gab, von dem ich nicht wusste.
"Lilith." Dad klang nun schon fast wütend. Verständlich, wenn man seit fünf Minuten vor einer Zimmertür stand und nicht hineingelassen wurde. Man könnte natürlich auch alle Anzeichen richtig deuten und daraus schließen, dass die Person hinter der Tür nicht mit einem reden wollte. Aber das überstieg offensichtlich die sozialen Kompetenzen meines Vaters.
"Lilith, wenn du mich nicht sofort reinlässt, dann öffne ich die Tür einfach ohne deine Einwilligung. Das ist schließlich noch immer mein Haus."
Drohungen und das typische Mein-Haus-meine-Regeln-Gelaber, so gewann man das Herz eines Teenagers.

Zehn Sekunden später stand er ungebeten in meinem Zimmer. Er kam mit großen Schritten auf mich zu und baute sich vor mir auf. "Ich verstehe, dass wir nicht die beste Beziehung zueinander haben. Deshalb bist du wahrscheinlich auch so kühl mir gegenüber. Aber glaubst du, dadurch wird es besser?"
Mit einem Seufzen verließ ich meine liegende Position und setzte mich stattdessen im Schneidersitz auf meine Liege. "Denkst du, es wird besser, wenn du einfach über das hinwegsiehst, um das ich dich bitte?"
"Hör mal, ich habe nicht die Zeit, um mich mit deinen Launen auseinanderzusetzen. Ich muss mit dir über etwas Wichtiges sprechen." Er rümpfte die Nase, als Cody an ihm vorbei ging, um sich vor mir auf der Liege niederzulassen und dort wieder die Augen zu schließen.
"Wenn du nicht bereit bist, dich mehr in mich hinein zu versetzen, sehe ich nicht ein, warum ich es tun sollte." Ich zuckte mit den Schultern.
Mein Vater schien kurz mit sich zu kämpfen, ob er diese aussichtslose Diskussion weiter fortsetzen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
"Du warst gestern in der Stadt, nicht wahr?"
Ich nickte.
"Hast du gesehen, dass in der Innenstadt ein Baum auf wundersame Weise zersplittert ist?" Sein Tonfall gab keinen Hinweis darauf, ob er die Antwort auf seine Frage bereits kannte oder ob er tatsächlich ahnungslos war.

Mein Gesicht blieb ausdruckslos, während ich überlegte, ob ich es Kian zutraute, mich zu verraten. Logischerweise musste er auch geschlussfolgert haben, dass wir irgendeinen Einfluss auf dieses Vorkommnis gehabt haben mussten. Obwohl dieser Einfluss meiner Meinung nach sehr gering sein musste. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Vielleicht war der Baum ja doch auf natürliche Weise zerstört worden. Leider hatte ich selbst schon festgestellt, dass ich nicht an einen doppelten Zufall glaubte.
"Gesehen habe ich es nicht, aber ich habe davon gehört." Eine halbe Lüge, denn ich hatte es wirklich heute in der Schule gehört. Viele sprachen darüber und versuchten, absurde Erklärungen zu finden. Ich befürchtete, dass, wenn ich meinem Vater sagte, dass ich tatsächlich anwesend gewesen war, er auf die Idee käme, ich könnte damit zu tun haben. Und das passte nicht in meine Welt. So etwas war nicht möglich. Deshalb wollte ich das Risiko nicht eingehen, irgendwelche Gerüchte zu schüren.

"Bist du dir sicher?", wollte er eindringlich wissen, worauf ich erneut nickte. Er stieß einen langen Atemzug aus, als wäre er unendlich erleichtert. "Okay, das ist sehr gut. Danke für deine Ehrlichkeit."
Er wandte sich ab, um zu gehen, doch ich hielt ihn auf. "Was wäre denn gewesen, wenn ich etwas gesehen hätte?"
Er dachte kurz über meine Frage nach, bevor er antwortete: "Es hätte einige Fragen aufgeworfen und uns, besonders dich, in eine ziemlich unangenehme Position gebracht. Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Hier gehen ab und zu einige seltsame Dinge vor sich. Ich finde es sehr gut, dass du dich von ihnen fern hältst und rate dir, das auch weiterhin zu tun."
"Das kriege ich hin", erwiderte ich, in dem Wissen, dass dies erneut eine Lüge war. Ich versuchte, mich aus dem Dreck hier herauszuhalten, aber irgendwie, so schien es, fand er mich dennoch immer wieder. Zuerst das Fenster, dann der Vollmond und der Wolf und nun der Baum.
Das Optimalste wäre wohl, wenn ich weiter mein Bestes geben würde, um weg von all den Dingen zu bleiben, die ich mir nicht erklären konnte. Angefangen mit Kian.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt