•neunundfünfzig•

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Ein energisches Klopfen an meiner Tür riss mich aus dem Schlaf. Verschlafen und verwirrt sah ich zur Tür.
"Lilith! Ich hoffe, du hast nicht verschlafen. Wir müssen gleich los." Beahs laute Stimme entlockte mir ein kurzes Stöhnen, bevor ich die Bedeutung hinter ihren Worten überhaupt verstand.
Verdammt, heute war ein normaler Schultag. Irgendwie hatte ich das vollkommen vergessen.
Ich griff nach meinem Handy, das soweit von mir entfernt lag, dass ich mich ein wenig strecken musste. Vier verpasste Alarme. Na klasse, ich konnte es also nicht einmal auf mein Handy schieben.
Nebenbei vernahm ich, dass Beah die Treppe hinunter ging. Wahrscheinlich in die Küche, denn ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir tatsächlich in etwa zehn Minuten los mussten. Zeit zum Frühstück blieb mir da wohl nicht mehr.
Eine Bewegung neben mir ließ mich stocksteif werden. Daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Vorsichtig lugte ich über meine Schulter zu dem schlafenden Kian an meiner Seite.
Da Cody sich immer noch auf meinem Sofa breit machte und ich Kians Angebot, auf dem Boden zu schlafen, total bescheuert gefunden hatte, hatte ich ihn kurzerhand zu mir ins Bett geholt. Uns hatte die Müdigkeit so schnell eingeholt, dass wir uns keine weiteren Gedanken darüber gemacht hatten.

Die Zeit hatte ich wohl jetzt. Wobei... eigentlich ja nicht, aber ich nahm sie mir einfach. Ich trug noch immer sein Oberteil, weswegen er mit nacktem Oberkörper in meinem Bett lag. Ein Anblick, den ich so schnell sicherlich nicht wieder vergessen würde. Er lag auf der Seite mit dem Gesicht zu mir. Sein Atem ging gleichmäßig und langsam. Ich bezweifelte, dass er in den nächsten Minuten aufwachen würde. Wenn ihn nicht einmal Beahs lautes Rufen dazu gebracht hatte, dann würde es wohl auch nicht die Morgensonne schaffen, die sich ihren Weg in mein Zimmer bahnte.
Plötzlich schlangen sich starke Arme um mich und zogen mich an Kians Körper heran. Ich gab einen erschrockenen Laut von mir, der mir im Halse stecken blieb, als Kian mich eng an sich drückte. Seinen Kopf vergrub er in meinem Nacken.
Kurz dachte ich, dass er nun doch aufgewacht war. Aber sein Atem blieb in dem gleichen Rhythmus, was wohl bedeutete, dass er mich im Schlaf an sich gezogen hatte.
Ich nahm mir vor, nicht weiter darüber nachzudenken und es einfach zu genießen.

Zwar sollte ich jetzt wohl nicht mehr einschlafen, aber ein bisschen ruhen konnte ich dennoch. Allerdings würde es wohl nicht mehr lange dauern und Beah würde erneut kommen und mich an die Uhrzeit erinnern. Oder noch schlimmer: Veronica würde mich wecken wollen.
Ganz sicher konnte ich nicht erklären, was hier vor sich ging.
Mangels einer Alternative drehte ich mich umständlich in Kians Griff herum, sodass ich ihm gegenüber lag. Ich legte meine Hände auf seine Oberarme und schüttelte ihn daran sanft.
"Kian! Kian, du musst aufwachen", flüsterte ich ihm zu, da ich verhindern musste, dass die anderen Bewohner dieser Hauses mit ihrem Supergehör mich hörten.
Jenem Supergehör, mit dem sie mich letzte Nacht eigentlich hätten hören müssen. Wären sie nicht verhext worden. Oder verzaubert. Oder wie man das auch immer nannte. Aber offensichtlich hatte der Zauber nicht lange angehalten, sodass alle jetzt wieder bei Kräften waren.
Vielleicht würde es Cody also auch so ergehen. Der lag nämlich immer noch in der gleichen Position auf dem Sofa. Nicht einmal seinen Kopf hatte er bewegt. Und spätestens durch meinen Wecker hätte er geweckt werden und danach dafür sorgen müssen, dass ich ebenfalls aufstand.

Ich rüttelte etwas stärker an Kian und flüsterte seinen Namen noch eindringlicher. Holte er etwa den Schlaf von den letzten Tagen auf? Bedeutete das, er würde heute gar nicht mehr aufwachen?
"Kian! Wach auf!" Ich wagte mich an eine lautere Stimme heran und hoffte einfach, dass mich niemand sonst hören würde.
Tatsächlich funktionierte es, zumindest in Kombination mit dem Schütteln. Zuerst suchte er wieder die Nähe meines Körpers, bevor er ebenfalls verschlafen die Augen öffnete. Er brauchte etwas länger, um zu verstehen, wo er sich befand und vor allem, warum er das tat.
Sobald alle Verknüpfungen in seinem Gehirn hergestellt waren, riss er erschrocken die Hände von meinem Körper und meinte mit rauchiger Stimme: "Entschuldigung."
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich habe mich nicht beschwert."
Er lächelte geschlagen und ließ seinen Kopf in die Kissen senken. "Wie spät ist es?"
"So spät, dass ich offenbar in ein paar Minuten zur Schule muss. Was wahrscheinlich bedeutet, dass du auch los musst."
"Weißt du, du musst nicht zur Schule. Ich gehe manchmal auch nicht. Und ich bin mir sicher, dass niemand komische Nachfragen stellen wird, wenn du einfach behauptest, du wärst krank."

Die Idee war verlockend. Deutlich verlockender als die Vorstellung, heute zur Schule zu gehen.
"Also rätst du mir, zu lügen?"
"Ich rate dir, auf deinen Körper zu hören. Und da ich sehen kann, dass du ganz offensichtlich noch ein bisschen Ruhe gebrauchen könntest und ich weiß, dass du ganz sicher keine erholsame Nacht hattest, denke ich, dass dein Körper mir zustimmen wird. Du warst doch noch nie krank. Niemand würde sich irgendetwas denken."
"Ich hätte nichts gegen ein wenig mehr Schlaf", gab ich zu.
Kian nickte zufrieden und schloss erneut die Augen. Sein Arm wanderte meinen Rücken hinauf und übte dort leichten Druck aus. Ganz offensichtlich lud er mich ein, seinen Oberkörper als Kopfkissen zu benutzen und noch ein paar Stunden zu schlafen.
Oh, wie konnte ich dazu nur Nein sagen?
"Und wenn wir wieder aufwachen, kümmern wir uns um deine Verletzungen und reden, wie es abgemacht war." Kian ließ nicht locker.
"Vergiss deine Verletzungen nicht."
"Mir geht es super."
"Das meintest du gestern auch schon. Da habe ich dir schon gesagt, dass ich dir nicht glaube."
"Gestern hattest du auch noch recht. Es sind aber einige Stunden vergangen. Mein Körper heilt schneller als deiner. Du hast also Vorrang." Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

Ich rollte mit den Augen. "Bist du morgens immer so gut gelaunt?"
"Ich lade dich gerne dazu ein, es herauszufinden."
Zum Glück waren seine Augen noch immer geschlossen, sodass er nicht sehen konnte, wie rot meine Wangen angesichts dieser unmissverständlichen Einladung wurden. Ich hatte ihn wirklich vermisst.
Es klopfte erneut. "Lilith, wir müssen jetzt los. Zieh dir schnell was über. Ich habe echt keine Lust, dass wir uns verspäten."
Kian machte keine Anstalten, mir zu helfen. Es würde mich nicht wundern, wenn er schon wieder eingeschlafen war.
"Mir geht es nicht so gut. Ich glaube, ich bleibe heute lieber Zuhause. Ich ruf auch gleich in der Schule an und sag Bescheid, dass ich wegen Krankheit nicht komme." Ich war stolz auf die Glaubwürdigkeit in meiner Stimme.
Allerdings ließ Beah nicht sofort locker. "Was hast du denn? Soll ich meine Mum mal holen? Vielleicht kann sie dir auch was von der Apotheke mitbringen, wenn du was brauchst? Oder dich zum Arzt fahren?"

"Nein, nein", beeilte ich mich zu sagen. "Es geht schon. Fahrt einfach ohne mich. Ich komme schon klar. Morgen geht es mir bestimmt schon besser."
Die kurze Stille von der gegenüberliegenden Seite meiner Tür verschaffte mir Hoffnung, dass Beah mir glaubte. Scheinbar wollte sie sich aber noch persönlich von der Wahrheit meiner Worte versichern, denn plötzlich öffnete sie die Tür und kam herein.
"Verzeih mir, dass ich so reinplatze, aber du klingst auch nicht so gut." Beah sah mich sorgenvoll an und kam immer näher an mein Bett heran. "Bist du dir sicher, dass du nichts brau-"
Mit offen stehendem Mund blickte sie auf Kian herab, der neben mir lag.
Erstaunt guckte sie wieder zu mir.
"Es ist nicht so, wie es aussieht."
"Bist du dir sicher?", hakte sie nach. "Denn es sieht ganz schön interessant aus." Sie deutete auf Kians nacktem Oberkörper und seinen Arm, den er noch immer um mich geschlungen hatte.
Rasch befreite ich mich aus seinem Griff und schob die Bettdecke von mir, sodass ich mich aufrecht hinsetzen konnte.
Erschrocken schnappte Beah nach Luft. "Was ist denn mit dir passiert?" Ihr verwunderter Blick ruhte nun auf meinen Armen, die noch immer von kleinen Schnitten übersät waren, welche glücklicherweise nicht mehr ganz so doll schmerzten wie noch gestern Abend. Nur mein Arm brannte noch immer.

"Ich erkläre es dir ein anderes Mal, okay? Jetzt wäre es wirklich sehr nett von dir, wenn du mich vor deiner Mum decken könntest." Meine Augen huschten zur Tür. Beah könnte wenigstens ein wenig Verständnis für meine jetzige Situation aufbringen. Irgendwie vermutete ich, dass es mit Veronica nicht ebenso simpel wäre.
"Klar, das mache ich. Aber bist du sicher, dass es dir gut geht? Ich meine, weißt du, wie du aussiehst? Furchtbar, du bist auch ganz blass."
Ein kleines Grinsen lag in meinen Mundwinkel, weil ich natürlich wusste, dass sie ihre Beschreibung nicht böse meinte.
Ein Bewegung hinter mir und Kian richtete sich auf. Jetzt besaß er Beahs volle Aufmerksamkeit. "Es gab letzte Nacht einige Probleme mit einem ungebetenen Gast. Wir werden euch später über alles informieren. Jetzt brauchen wir aber erst einmal Ruhe. Ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du uns schlafen lassen könntest."
"Beah, was macht ihr da oben denn? Wir kommen zu spät." Veronicas besorgte Stimme schallte bis nach oben. Dennoch konnte ich mich nur freuen, dass es ihr wirklich gut ging.
Beah sah erneut von mir zu Kian, bevor sie laut rief: "Lilith ist krank. Sie will heute zu Hause bleiben und möchte jetzt erstmal schlafen. Aber ich komme sofort."
Ich lächelte sie dankbar an, während Kian wieder zurück in die Kissen sank. "Dankeschön."
Sie lächelte mich an. "Kein Ding. Ich bin nur froh, dass man euch wieder zusammen sieht."

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt