•sechzehn•

460 35 0
                                    

Das Rascheln meines Schlüssels in meiner Jackentasche machte Veronica auf mich aufmerksam. Sie lugte um die Ecke und kommentierte zu meinem Anziehen: "Es ist doch schon nach Acht. Willst du nochmal raus?"
Ich nickte. Das Abendessen mit dieser Familie hatte mir gereicht. Das war definitiv genug Sozialisieren für die nächsten drei Monate. Das Schlimme an den Abendessen an einem Sonntag war, dass sie für diese Familie sehr wichtig waren. Sonntag war der Tag, an dem mein Vater auf jeden Fall pünktlich zum Essen zu Hause war. Das musste natürlich mit einem ausgiebigen Abendmahl gefeiert werden.
Hinzu kam, dass der letzte Tag der Woche hier scheinbar bedeutete, man fasste alles zusammen, was so Wichtiges in der Woche geschehen war. Ich bekam also mehrere Fragen gestellt, die alle in die Kategorien "Wie gefällt es dir in der Schule?" und "Hast du schon neue Freunde gefunden?" gehörten. Der stechende Blick meines Vaters verbesserte die Situation nicht gerade. Es schien mir, als wollte er lediglich wissen, ob er nächtens wieder besser schlafen könnte, in dem Bewusstsein, dass es seiner Tochter gut ging. Weiter ging sein Interesse dann auch nicht.
Wenn all das mit der freudigen Beah und der mütterlichen Veronica zusammen kam, brauchte ich eine Auszeit.
In meinem Zimmer wurde ich nur mit den Dingen konfrontiert, die ich mir nicht erklären konnte. Und diese Liste war lang. Allein über sie nachzudenken, bereitete mir Kopfschmerzen.
Mein einziger Ausweg war die frische Luft. Am liebsten die frische Luft im Wald. Genau das war mein Ziel.

"Hältst du das für eine gute Idee?" Veronica lehnte nun mit ihrem Körper an dem Türrahmen.
"Definitiv", gab ich kurz zurück. Ein bisschen Ruhe war genau das, was ich jetzt benötigte. Irgendwo musste ich schließlich die Kraft hernehmen, um morgen wieder mit anderen Menschen zurechtzukommen.
"Ich weiß ja nicht", äußerte sie ihre Zweifel an meinem Vorhaben. Ich wusste ganz genau, warum ich gerne alleine war. Dann gab es niemanden, der mir in meine Pläne pfuschen konnte. "Es ist schon ziemlich spät und morgen ist doch Schule. Vielleicht wäre es besser, wenn du heute nicht mehr raus gehst."
Ich ließ mich von ihr nicht beirren und streifte mir meine Jacke über. Zwar war es auch abends noch recht warm draußen, aber der Wind konnte schon ein wenig kühl werden.
"Das denke ich nicht. Ich hatte noch nie Probleme draußen. Ich bleibe ja auch nicht zwei Stunden weg."
Das schien sie nicht zu beruhigen. Ganz im Gegenteil. Sie sah mich skeptisch an. Ich glaubte, in ihrem Gesicht den Konflikt zwischen "Ich weiß es besser" und "Ich sollte ihr nichts vorschreiben" zu erkennen.
Ich nahm ihre Unentschlossenheit dankbar an und verließ rasch das Haus. Kaum schloss ich die Tür hinter mir, fragte ich mich, ob ich mich wohl schlecht fühlen sollte. Schließlich nutzte ich ihr schlechtes Gewissen, das sie dazu zwang, sich nicht als meine Ersatzmutter aufzuspielen, für meine Zwecke aus. Andererseits konnte mich niemand davon abbringen, mein Ding durchzuziehen. Auch nicht Veronica. Deshalb ging das schon in Ordnung, versicherte ich mir, während ich schnellstmöglich in Richtung des Waldes eilte.

¤¤¤

Nach einer Weile ärgerte ich mich, dass ich Veronica versichert hatte, ich würde nicht länger als zwei Stunden draußen bleiben. Ich stiefelte immer weiter in den Wald hinein. Sicherlich hätte ich auch einfach umdrehen können, aber ich hatte noch immer nicht dieses Gefühl in meiner Magengegend. Das Gefühl, das mir gut zusprach und mir sagte, alles würde so passieren, wie es geschehen soll. Stattdessen hatte ich diese Unruhe in mir. Sie schrie mir entgegen, dass ich keinen Einfluss auf mein Schicksal hatte. Dass ich Mums Tod nicht würde verarbeiten können. Dass nie alles gut werden würde.
Ein Knacken hinter mir ließ mich erschrocken herumfahren. Ich bereute es, Cody nicht mitgenommen zu haben. Der hatte aber bereits vor dem Abendessen in meinem Zimmer ein Mittagsschläfchen gehalten. Zwar war es schon lange nach der Mittagszeit gewesen, aber mein Hund war mir eben sehr ähnlich. Schlafen ging immer.
Weder Mond noch Sterne beleuchteten meinen Weg. Sie waren hinter einer dicken Wolkenwand verborgen, die meinen Gemütszustand nicht gerade verbesserte. Vielmehr verstärkte sie das gruselige Gefühl, alleine im Wald zu sein.
Ich schüttelte den Kopf über meine Gedanken. Ich fürchtete mich nicht vor dem Wald und erst recht nicht vor seinen Bewohnern. So hatte meine Mutter mich nicht erzogen. Sie hatte mich Respekt und Ehrfurcht gelehrt, aber keine Furcht.
Das sprach ich mir immer wieder zu, bevor ich mich erneut umdrehte, um meinen Weg fortzusetzen.

Umso schockierter war ich, auf einmal rotbraune Augen vor mir zu sehen. Das brachte mich so aus der Fassung, dass mir auch mein gutes Zureden nicht mehr half. Ich schrie erschrocken auf und wich einige Schritte nach hinten. Natürlich - wie sollte es auch anders sein - stolperte ich und fiel auf meinen Hintern. Glücklicherweise fiel ich nicht hart. Der Waldboden schien meinen Sturz ein wenig abzufedern. Dadurch kam ich wohl mit einer dreckigen Hose davon.
Anklagend richtete ich meinen Blick auf den Wolf vor mir, den ich wieder erkannte. "Musst du mich denn so erschrecken?" Zumindest hoffte ich, es wäre das gleiche Tier von damals. Das hatte sich mir gegenüber ziemlich friedlich verhalten, sodass ich nicht um mein Leben fürchten musste.
Meine Zweifel lösten sich in Luft auf, als der Wolf mit gebückter Haltung vorsichtig näher kam. Er ließ sich neben mir nieder.
"Danke, dass du mir mal wieder Gesellschaft leistest", murmelte ich. Das Tier hob seinen Kopf und blickte mich aus rotbraunen Augen verstehend an. Also nicht wirklich verstehend. Schließlich konnte es mich nicht verstehen. Das redete ich mir immer wieder ein, um so das Gefühl loszuwerden, dass der Wolf mehr verstand, als ich ihm zutraute.
"Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr dauernd denken, ich würde verfolgt. Du würdest Eindringlinge doch spüren, nicht wahr? Das tut zumindest mein Hund. Sein Name ist Cody. Er warnt mich bereits vorher, wenn sich jemand nähert. Dann habe ich mehr Vorbereitungszeit, um mich auf andere Menschen einzustellen."

Ich sah verlegen zu dem Wolf. So viel am Stück redete ich selten. Vor allem nicht vor Fremden. Allerdings war dieser Fremde ein Tier. Er konnte meine Geheimnisse nicht weitersagen. Und es schien ihn auch nicht zu stören, dass ich viel erzählte.
Das nahm ich als Zuspruch dafür, weiter zu sprechen. "Das mag vielleicht komisch klingen, schließlich bin auch ein Mensch. Aber manchmal da ist man einfach nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten. Du kennst das vielleicht mit anderen... deiner Art. Im schlimmsten Fall möchte auch noch jemand mit dir sprechen, mit dem du absolut keine Intentionen hast, zu reden. Würde ich das aber laut sagen, dann würde ich als unsympathisch gelten. Dabei hätte ich schlichtweg die Wahrheit gesagt. Und das ist doch auch erstrebenswert, nicht wahr? Stattdessen stehe ich da und höre mir an, was man mir zu sagen hat. Leider ist das im Regelfall auch nicht positiv. Also ein weiterer Grund, mir das Gerede gar nicht erst anzuhören. Aber wie schon gesagt, ich habe selten eine Wahl diesbezüglich. So wie du gerade. Du hast auch keine Wahl. Obwohl du einfach gehen könntest. Im Gegensatz zu mir hast du diese Option. Ich würde es dir auch nicht übelnehmen. Ich kann mir schließlich nicht vorstellen, dass dich meine Probleme auch nur im Geringsten interessieren."

Ich schluckte schwer, als mir bewusst wurde, wie dringend ich das alles hatte loswerden müssen. Ich fühlte mich direkt befreiter. Sonst sprach ich häufig mit Cody über so etwas, weil ich mich nicht wohl fühlte bei der Vorstellung, mich anderen Menschen gegenüber so zu offenbaren. Meine Mum war früher meine Bezugsperson gewesen. Ihr hatte ich alles erzählt, egal ob es gut, schlecht, lebensverändernd oder absolut unnötig war. Sie hatte stets ein offenes Ohr für mich gehabt. Genau das fehlte mir jetzt.
Es war für mich auch keine Möglichkeit, einfach nun mit Beah oder Veronica darüber zu reden. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich musste der Person vertrauen. Vertrauen, dass sie meine Geheimnisse für sich behielt. Offensichtlich hatte ich dieses Vertrauen nur bei Cody und dem Wolf.
Letzteren beäugte ich interessiert. Ich hatte ihm eine Wahl gegeben, die Möglichkeit, meinem Monolog zu entfliehen. Zwar ging ich noch immer davon aus, dass er mich nicht verstand. Aber... naja, wer wusste schon, ob er nicht vielleicht wenigstens meine Misere nachvollziehen konnte.
Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als der Wolf seinen Kopf vorsichtig, als wollte er mir die Option geben, sich zurückzuziehen, auf mein Bein legte. Eine Aufforderung, weiter zu sprechen und gleichzeitig eine Versicherung, dass er bleiben würde.
Nur zu gerne folgte ich seiner Einladung, während ich nebenbei bemerkte, wie die Unruhe aus mir wich und von einem leichten Gefühl von Zufriedenheit in meiner Magengegend ersetzt wurde. Es war genau das, weshalb ich überhaupt erst hierher gekommen war.

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt