•sechsundachtzig•

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Meine Finger strichen über die letzte Seite des Buches meiner Mutter. Über die letzten Worte, die sie an mich gerichtet hatte. Wieder und wieder las ich sie mir durch.
𝐼𝑐ℎ 𝑏𝑖𝑛 𝑠𝑜 𝑢𝑛𝑔𝑙𝑎𝑢𝑏𝑙𝑖𝑐ℎ 𝑠𝑡𝑜𝑙𝑧 𝑎𝑢𝑓 𝑑𝑖𝑐ℎ, 𝐿𝑖𝑙𝑙𝑖. 𝑁𝑖𝑐ℎ𝑡𝑠, 𝑤𝑎𝑠 𝑑𝑢 𝑡𝑢𝑛 𝑘𝑜̈𝑛𝑛𝑡𝑒𝑠𝑡, 𝑘𝑜̈𝑛𝑛𝑡𝑒 𝑒𝑡𝑤𝑎𝑠 𝑑𝑎𝑟𝑎𝑛 𝑎̈𝑛𝑑𝑒𝑟𝑛.
Es waren einer der wenigen Sätze, die nicht so ordentlich und gut lesbar geschrieben waren. Fast schien es, als hätte ihre Hand gezittert, während sie diese Worte formuliert hatte. Vielleicht hatte sie sogar geweint. Ich wusste es nicht.
Ich war mir nicht sicher, ob ich es wissen wollte.

Meine Hand zitterte leicht, als ich vorhatte, das Buch wieder zu schließen. Ich glaubte nicht, dass ich das konnte. Diese Seiten, Zeilen, Worte hatten mir meine Mum wieder zurückgebracht. Es kam mir so vor, als würde ich diese Verbindung wieder kappen, sobald ich das Buch als beendet erklärte.
Ich löste mein Problem, indem ich das Buch geöffnet neben mir hinlegte.
Cody reagierte sofort. Er folgte dem Buch mit seiner Nase, bis er wieder an ihm riechen konnte. Ich beobachtete ihn, wie er auf dem Bauch liegend, die Nase nah beim Buch meiner Mum ein- und ausatmete. Ich mochte die Vorstellung, dass der Geruch meiner Mum noch daran haftete und Cody deshalb so gern daran roch. Weil auch er sie vermisste.

Ich fühlte mich leer. In mir war dieses merkwürdige Gefühl, das ich nicht einordnen konnte. Ich hatte alles gelesen, von dem meine Mum der Ansicht gewesen war, dass ich es irgendwann mal gebrauchen konnte. Dennoch fühlte ich mich schutzlos. Beinahe nutzlos. Sie hatte so viel beherrscht, war zu so vielem fähig gewesen. Sie hatte mich mit allem, was sie hatte, geschützt.
Und ich war nicht einmal in der Lage, die Kontrolle zu bewahren. Mich im Griff zu haben.
Auch nach Yadiers Anruf vor ein paar Tagen war es mir nicht gelungen, den Hinweis meiner Mum umzusetzen.
Beabsichtigte ich es, die Kontrolle zu verlieren, gelang es mir nicht. Musste ich dringend die Kontrolle behalten, verlor ich sie.
Mir war schon bewusst, dass ich wahrscheinlich einfach nur Zeit brauchte. Zeit, um zu mir zu finden und meine Kräfte kennenzulernen. So wie Eduard Schöff es getan hatte. Zurückgezogen hatte er sich ausprobieren können, bis ihm klar geworden war, was er vom Leben wollte und erwarten konnte.
Genau das benötigte ich auch. Doch wenn es eine Sache gab, die ich nicht hatte, dann war es Zeit.

Wenn es eine Sache gab, die meine Feinde nicht interessierte, dann, inwieweit ich Herrin meiner Fähigkeiten war. Im Grunde spielte es ihnen sogar in die Karten, wenn ich mich nicht im Griff hatte. Wie sollte ich eine Gefahr darstellen, wenn ich, umso stärker ich wurde, immer weniger bestimmen konnte, wann ich meine Magie einsetzen wollte?
Damals war es mir gelungen. Als der Vampir mich verfolgt hatte. Sogar bei Yadier. Bis dahin war ich mir sicher gewesen, dass alles gut werden würde. Doch Mr. Schöff hatte recht. Und Jeremy hatte es mir nur noch stärker vor Augen geführt. Umso länger ich eine Hexe war, umso mehr Macht würde ich entwicklen. Umso wichtiger war es, die Oberhand zu behalten.
Das gelang mir in meinem normalen Leben sogar schon nicht. Zumindest manchmal. Wie sollte ich nun die Verantwortung dafür tragen, andere nicht zu verletzen?
Mein Leben war einfacher gewesen, als das Einzige, worüber ich mir Gedanken gemacht hatte, gewesen war, wie ich diese Stadt am schnellsten wieder verlassen konnte. Bevor ich alles andere kennengelernt hatte.

Das bedeutete nicht, dass ich es bereute, meine Freunde und Kian kennengelernt zu haben. Niemals. Sie waren, was mir Kraft gab. Doch auch sie verließen sich auf mich. Sie zählten auf mich.
Ich glaubte nicht, dass ich dem Vertrauen, das sie in mich hegten, gerecht werden konnte.
Ich war noch nicht einmal volljährig. Ich ging noch zur Schule. War bemüht, irgendwie gute Noten zu schreiben.
Es war nie mein Plan gewesen, mich mit jemandem anzulegen. Gegen jemanden kämpfen zu müssen. Für meine Freiheit.
Hätte mir früher jemand gesagt, dass ich mich irgendwann gegen Vampire und Werwölfe behaupten müsste, weil sie der Ansicht waren, mich für ihre Zwecke missbrauchen zu können, hätte ich diese Person ausgelacht.
In wenigen Tagen reiste ich zum König der Werwölfe, um... Ja, um was eigentlich? Um ihn darum zu bitten, mich in Frieden leben zu lassen? Um ihm zu versprechen, dass ich mich schon nicht gegen ihn stellen würde?

Ich wollte kein Teil dieses Krieges sein, bezweifelte aber, dass das irgendjemanden interessierte. Aber woher sollte ich wissen, für wen ich kämpfen sollte? Für die Werwölfe, weil ich mehr von ihnen kannte? Für die Hexen, die keine größere Rolle spielten, als missbraucht zu werden?
Oder würde ich für mich kämpfen? Mit dem Ziel, das Bestmögliche für mich zu bekommen. Doch was war das denn? Ein stilles Leben als Hexe, die mit der ständigen Angst zu kämpfen hatte, irre zu werden?
Was war mit Kian? Sein Weg war bestimmt. Er wusste, was ihn in der Zukunft erwarten würde. War es meine Rolle, ihm zur Seite zu stehen? Oder war unsere Seelenverbindung eigentlich ein Fehler? Wie sonst sollte ein beschützender, sorgender Mann an eine Frau gebunden sein, die jeden Moment explodieren konnte?

Spielte das Schicksal mit mir? Wollte es mir alles zeigen, was ich im Leben haben könnte, um mir in der nächsten Sekunde alle Gründe aufzuzeigen, weswegen dies nicht möglich sein konnte?
War das der Grund, warum es mit Kian immer besser lief und ich gleichzeitig ständig daran denken musste, dass er in meinem Alptraum im Sterben gelegen hatte? Sollte ich diese glücklichen Momente in meinem Leben genießen, bevor sie mir wieder entrissen wurden?
Vielleicht war das mein Weg. Vielleicht riss ich all jene, die mich liebten, mit ins Verderben.
Ich wusste, dass das nicht stimmen konnte. So funktionierte das Leben nicht. Ich war nicht schuld an all dem. Schließlich hatte ich nie danach gefragt. Eigentlich hatte ich nie gewollt, dass irgendetwas hiervon jemals geschah. Ich hätte weiter mit meiner Mum zusammen leben können. Zusammen mit ihr singen und spazieren gehen können. Den Frieden und die Stille eines erfüllten Lebens genießen können.
Doch das war mir nicht vergönnt gewesen.
War das ebenfalls das Schicksal gewesen? Hatte es mir meine Mutter entrissen? Oder war dieser Weg für sie vorbestimmt gewesen? War die Tatsache, dass sie im Vorhinein von ihrem Ende gewusst hatte, eine Entschuldigung? Denn nur deshalb hatte sie sich auf ihren Tod vorbereiten können.

Ich starrte auf meine Bettdecke, doch konnte nichts sehen. Es war schwarz. Alles war dunkel.
Was konnte ich tun, um dem zu entkommen? Um nicht so wie meine Mum zu enden? Um nicht den Verstand zu verlieren? Um Kian zu beschützen? Um frei zu sein?
Vielleicht waren es zu viele Wünsche. Zu viel, das ich mir erhoffte. Möglicherweise konnte ich Kian nur retten, indem ich meine Freiheit aufgab. Oder ich konnte nur frei sein, indem ich wie meine Mum starb.
Ich wusste es nicht. Und es gab niemanden, der mir darauf antworten konnte. Ich war allein mit meinen Fragen, meiner Hilflosigkeit.
Ich wollte gut sein. Ich wollte alles richtig machen. Ich wollte alle retten. Aber wie? Warum hatte Mum mir das nicht sagen können? Wie ich alles schaffen konnte? Denn ich wusste bei bestem Willen nicht, wie ich in der Lage sein sollte, all das zu erreichen.

Ein Klopfen an meiner Zimmertür.
Warum konnte das Schicksal nicht gnädig mit mir sein?
Die Tür wurde geöffnet.
Was hatte ich ihm getan, dass es mir so viele Steine in den Weg legen musste, bis ich gezwungen war, aufzugeben?
Eine Hand an meinem Kinn lenkte meinen Kopf nach rechts, bis ich in braunen Augen versank.
"Ich hatte das Gefühl, dass es dir nicht so gut ging. Deswegen bin ich gekommen, um nach dir zu sehen. Was ist los?"
Kians Finger strichen über meine Wange, meinen Hals.
Ich griff nach seiner Hand und zog ihn zu mir, bis ich meine Arme um seinen Körper schlingen und meinen Kopf an seiner Brust verbergen konnte.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt