•achtundneunzig•

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"Wenn ich sie nicht kriege, dann bekommt sie keiner."
Schwarze Stiefel traten in mein Blickfeld. Ein Gesicht näherte sich meinem. Eine Hand tastete nach meinem Haar, wickelte sich eine Strähne um den Finger.
"Was für eine Schande." Der Druck der Finger verstärkte sich, bis sich ein Ziehen an meiner Kopfhaut bildete.
"Du bist nicht so dumm, sie umzubringen."
Das Gesicht wandte sich von mir ab zu der anderen Person.
"Das Mädchen bereitet mir mehr Probleme, als es Lösungen erbringen kann."
Jetzt sahen die Augen wieder zu mir. Ein Lächeln schob sich in die Mundwinkel.
"Ich glaube, ich werde es genießen, dich leiden zu sehen."
Ich wollte das Grinsen aus dem Gesicht der Person schlagen. Doch ich konnte nicht einmal meinen Finger bewegen.
"Nicht..."
Meine Augen suchten automatisch nach Kian. Er hatte seine Hand nach mir ausgestreckt. Hätte er die Kraft dazu gehabt, wäre er zu mir gekommen. Erneut öffnete er den Mund. Aber es kamen keine Laute heraus.
"Ach, die Liebe... sie ist so süß, dass sie einem beinahe das Herz zerreißt." Die Stimme war voller Spott.
Die schwarzen Stiefel entfernten sich von mir. Sie traten zu Kian.
"Wie es wohl wäre, sie dir zu entreißen? Sie dir vor deinen Augen zu nehmen?"
Die Stimme lachte verächtlich. Der schwarze Stiefel trat Kian in die Seite, genoss sein schmerzfülltes Stöhnen, das darauf folgte.
"Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bestrafe dich für deinen Ungehorsam und beschere ihr den größten Schmerz, den wir jemals verspüren können."
Die Stimme wandte sich zu der anderen Person im Raum.
Meine Finger gruben sich in den harten Boden. Versuchten, Halt zu finden, um mich zu Kian zu ziehen. Ich wollte ihn berühren. Ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ihm all diese Lügen erzählen, damit er nur meine Liebe spürte, die ihn seine Schmerzen vergessen ließ.
"Nun schau doch nicht so angewidert." Die Stimme klang beinahe empört.
"Diese Art von Schmerz..." Die Person stockte. "Die verdient niemand."
"Verweichlicht. Ihr alle. Ihr seid schwach. Ihr habt nicht, was es braucht, um zu führen." Ich glaubte, die Stimme etwas leiser "Ich verdiene es, sie anzuführen. Ich habe, was es braucht" sagen zu hören.
Aber jeder Zentimeter, den ich Kian näher kam, ließ mich meine Umgebung mehr und mehr ausblenden. Jeder Millimeter, den meine Beine mich nach vorne schoben, war ein Erfolg.
Kian lag zusammengerollt vor mir. Seine Augen waren geöffnet. Er sah mich an. Er flehte um Verzeihung. Er bettelte nach einem Augenblick mehr.
Bevor meine Finger seine Hand ergreifen konnten, trat ein schwarzer Stiefel auf sie. Ein spitzer, schmerzerfüllter Schrei entwich mir.
"Du bist wie sie", erklärte die Stimme. Der Stiefel blieb auf meinen Fingern. "Sie ist auch immer dem gefolgt, was ihr Herz ihr gesagt hat."
Ich wimmerte, als der Stiefel meine Finger entließ. Ich spürte sie kaum.
Doch Entsetzen machte sich in mir breit, als die Hand nach Kians Nacken griff und ihn von mir fort zehrte.
"Ich werde dir zeigen, warum das Herz einem nur Schmerzen bereitet."
Verzweifelt sah ich zu, wie die Hände Kians Nacken in den Griff nahmen, als könnten sie ihn mit einer Bewegung zerschmettern. Als könnten sie ihn mir mit nur einer Bewegung für immer nehmen.
"Bitte nicht!" Ich erkannte meine Stimme nicht. "Bitte. Ich tue alles."

¤¤¤

Die Zeit schien still zu stehen.
Ich stand in der Küche, den Blick auf die Wand mir gegenüber gerichtet, während es draußen regnete. Ich war mir nicht sicher, warum ich dieses Gefühl einer Starre in mir spürte. Vielleicht stand die Zeit tatsächlich kurz still. Aber dieser kurze Moment, in dem ich begriff, was ich tun musste und was geschehen konnte, wenn ich versagte, war erschreckend.
Noch gruseliger empfand ich aber die Sekunde, in der ich mir wünschte, dass dies nicht mein Leben war. Dass ich mir keine Gedanken machen musste. Dass ich nicht befürchten musste, den Mann, den ich liebte, verlieren zu können.
Es stimmte, ich wusste nicht, was ihm wirklich widerfahren war. Aber mein Traum schwebte wie ein Damoklesschwert über mir. Nur dass es mich nicht schnell köpfen würde. Es würde mir lange, unermessliche Qualen zufügen.
Das musste ich verhindern. Wozu hatte ich die letzten Monate gekämpft, um mein Leben zu akzeptieren? Um meine Freiheit zu sichern? Nicht, um das alles jetzt wieder aufzugeben.
Meine Hand griff nach dem Anhänger in meinem Dekolleté. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren. Ich musste es zumindest versuchen.

Wo befand sich Kian? Das war die wichtigste Frage für den Moment. Ich konnte mich nicht darum kümmern, ob es ihm gut ging, wenn ich nicht wusste, wo er war.
Kurz kam mir der Gedanke, meine Kräfte anzuwenden, um ihn zu finden. Doch wusste ich weder, was ich dafür benötigte. Noch hatte ich jemanden, der mir sagte, wie ich nach jemandem suchte. Ich konnte mich nicht erinnern, dass meine Mum etwas darüber geschrieben hatte.
Aber sie hatte mir etwas anderes, wertvolles mitgegeben. Die Fähigkeit, immer meinem Herzen zu folgen. Es würde mir den Weg zu Kian leiten.
Etwas ähnliches hatte Kian mir damals erzählt. Nicht nur hatte er mich gespürt, er hatte automatisch gewusst, wo ich war. Als hätte ihn eine unsichtbare Schnur genau zu mir geführt. Vielleicht konnte ich nicht genug Konzentration aufbringen, um seine derzeitigen Gefühle zu erspüren. Doch ich konnte meinen Fokus auf seinen Standort legen. Ich konnte mich darauf fixieren, ihn finden zu wollen. Meinen Seelengefährten zu retten.
Die Kälte des Jade bahnte sich ihren Weg über meine Haut, bis sie zu meinem Kopf gelangte. Wenn ich mich nicht ablenken ließ, mich nicht von meinen Emotionen übermannen ließ, dann würde ich das schaffen. Ich musste es schaffen.

In wenigen Schritten verließ ich die Küche und rannte in mein Zimmer. Ich tastete nach dem Buch meiner Mum und drückte es eng an meine Brust. Dann stockte ich. Warum wollte ich es mitnehmen? Aus Angst, mich alleine nicht dem entgegenstellen zu können, was auf mich warten würde? Die Sprüche und Weisheiten meiner Mum würden mir nicht helfen. Alles, was ich benötigte, hatte sie mir beigebracht. Alles, was ich benötigte, hatte ich gelernt. Alles, was ich benötigte, befand sich in mir. Ich musste nur darauf vertrauen, dass ich es schaffen konnte.
Kurzerhand ließ ich das Buch auf mein Bett fallen und sprintete die Treppe wieder hinunter.
Cody folgte mir auf Schritt und Tritt. Er schien nicht verwirrt wegen meines Verhaltens. Wahrscheinlich wusste er genau, was ich dachte.
Ich griff meine Jacke vom Boden auf und öffnete die Haustür. Erneut stockte ich. Ich drehte mich zu Cody um.
Es schmerzte mir, als ich ihm mitteilte: "Du bleibst hier."
Cody bellte mich an. Er schien mir nicht zuzustimmen.
"Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, Kian zu retten, wenn ich mich um dich sorgen muss."
Cody wollte sich an mir vorbei drängen. Es war einer der wenigen Momente, in denen er nicht auf mich hörte.
Ich drängte ihn zurück ins Innere des Hauses. "Es tut mir leid." Meine Stimme zitterte. "Es geht nicht." Dann schlug ich die Haustür hinter mir zu und brachte rennend Abstand zwischen das Haus und mich. Ich folgte dem Ziehen in meinem Herzen. Dennoch hörte ich Cody in meinem Ohr bellen, als stünde er direkt neben mir.
Doch es ging nicht anders. Kian brauchte mich. Er brauchte mich gerade mehr, als Cody es tat. Er würde es verstehen. Das wusste ich.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt