•Epilog•

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Der Wald hatte sich über die Jahre verändert. Er war gewachsen, sowohl in seiner Größe, als auch in seiner Breite. Vielleicht war das der Grund, warum es für mich nie langweilig wurde, ihn für meine Spaziergänge zu nutzen. Obwohl ich beinahe täglich spazieren ging, bemerkte ich auch heute noch einen Strauch, den ich noch nicht gesehen hatte, einen Pilz, der mir noch nicht bekannt vorkam.
Cody erging es ähnlich wie mir. Er hatte seine Freude an unserem Wald nie verloren. Jedes Mal aufs Neue schnüffelte er an Wurzeln und Steinen. Er war mein treuer Begleiter.
Walther hatte mir heute angeboten, mich zu begleiten. Ich war mir nicht sicher, ob er mir einfach Gesellschaft leisten wollte, oder ob er sichergehen wollte, dass ich nicht schon wieder auf Vampire traf. Dabei war mein letztes Aufeinandertreffen mit einem bereits über ein Jahr her. Ohne mich selbst loben zu wollen, konnte ich behaupten, dass ich das Problem souverän gelöst hatte. Ich hätte es nicht tun müssen, wenn die Vampirin mich nicht angegriffen hätte. So hatte ich sie bewusstlos gemacht und zu ihrem Clan zurückgeschickt. Es stellte sich heraus, dass sie noch recht jung gewesen war und sich deshalb nicht mit den Grenzen ihres Clans ausgekannt und sich verlaufen hatte. Das Ganze war nicht weiter dramatisch gewesen.

Kian und unsere Freunde hatten diesen Vorfall nicht ganz so schnell vergessen. Es war der erste Durchbruch in unserer Grenze gewesen, seit Kian Alpha geworden war. Scheinbar hatte sie das so schockiert, dass sie immer noch nicht darüber hinweg waren. Ich teilte ihre Sorge nicht. Die Vampirin hatte sich einige Wochen später sogar mit einem Brief bei mir entschuldigt. Abgesehen davon ging von ihr nicht wirklich eine Gefahr aus.
Ich vermutete, dass die anderen sich so sehr auf diese Aktion stürzten, weil es das erste Mal in Jahren gewesen war, dass wir "angegriffen" worden waren. Es war ihnen einfach zu ruhig. Auf die Idee, dass das damit zu tun haben könnte, dass man uns nicht angreifen wollte, weil man wusste, man würde nicht weit kommen, kamen sie wohl nicht.
Mir war es gleich. Ich würde jeden Eindringling in Sellwyll spüren. Wofür brauchte man schon verbessertes Gehör, wenn man als Hexe spüren konnte, wenn sich etwas näherte? Zugegebenermaßen eine Fähigkeit, die ich noch nicht sehr lange besaß.
Ich hatte Walther folglich dankend abgelehnt und ihm geraten, seine Zeit eher mit seiner schwangeren Seelengefährtin zu verbringen. Er hatte meinen Vorschlag liebend gerne angenommen und war in wenigen Sekunden aus dem Herrenhaus verschwunden.

Das war jetzt etwa drei Stunden her. Kian hatte ich seit fast fünf Stunden nicht mehr gesehen. Er wollte sich heute um die jungen Werwölfe kümmern, die sich in dem letzten Monat frisch verwandelt hatten.
An dem Kribbeln in meinem Nacken nahm ich an, dass er damit wohl fertig geworden war. Ein kleines Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel, als ich dem inneren Ziehen in meinem Herzen zu Kian folgte. Es führte mich zu einer mir allzu bekannten Lichtung. Hier hatten Kian und ich früher an meinen Kräften geübt. Hier hatten wir erzählt und gelacht. Uns ineinander verliebt.
Es war ein Wolf, dem ich gegenüber stand. Jetzt lächelte ich vollständig.
"Fühlt sich ein bisschen an wie früher", gab ich zu.
Ich spürte, dass Cody mir gefolgt war und sich jetzt in der Nähe der Lichtung aufhielt. Glücklicherweise hatte er sich mit den ganzen Wölfen um sich herum mit der Zeit angefreundet, sodass ihn Kians Anblick jetzt nicht weiter störte, als ein Stein, der sich auf seinem Weg befand.

Kian kam mir entgegen. Er rieb seinen Kopf an meinem Bauch, woraufhin ich mich hinkniete und mein Gesicht in seinem Fell barg.
Nach einer Weile löste ich mich von ihm. "Du wusstest schon immer genau, wo ich war."
Er legte den Kopf schief und stupste mich als Bestätigung mit seiner Nase an.
"Ich liebe diesen Ort hier." Ich stellte mich wieder aufrecht hin und drehte mich langsam um mich selbst. "Ich verbinde so viele schöne Erinnerungen mit ihm."
"Dann habe ich wohl einen passenden Ort gewählt."
Bei Kians Stimme wandte ich mich wieder zu ihm. Er kniete vor mir. In seiner Hand eine kleine geöffnete Schachtel. Auf einem schmalen Samtkissen lag darin ein Ring. Er war filigran gearbeitet und schimmerte silbern. Auf seiner Spitze thronte ein kleiner grüner Stein. Ein Ebenbild zu dem Jade, den ich um meinen Hals trug. Er war umrandet von vielen, winzigen Steinen, die in der Sonne silbern schimmerten. Der Ring war wunderschön.
"Lilli", lenkte Kian mit einem Grinsen meine Aufmerksamkeit von dem Ring zu sich. Er ergriff meine Hand. Ich war zu verblüfft, um reagieren zu können.

"Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, hast du mich fasziniert. Je besser ich dich kennenlernen konnte, umso größer ist diese Faszination geworden. Ich habe jede Ausrede angenommen, um in deiner Nähe zu sein, deine Stimme zu hören. Ich konnte nie genug von dir kriegen. An diesem Gefühl hat sich mit der Zeit nichts geändert. Ich liebe es, jeden Morgen aufzuwachen und dich zu sehen. Ich liebe es, jeden Abend neben dir einzuschlafen. Ich liebe dich. Mehr als irgendetwas anderes auf dieser Welt. Du bist meine beste Freundin, meine Seelengefährtin und die Liebe meines Lebens. Ich möchte keinen Tag ohne dich verbringen. Ich möchte erleben, wie du mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Ich möchte gemeinsam mit dir alt werden. Ich hoffe sehr, dass du das Gleiche willst. Darum frage ich dich: Lilith Kelman, würdest du mir die Ehre erweisen, mich zu heiraten?"

Die Tränen rannen mir ungehindert über das Gesicht, auf dem sich gerade ein riesiges Lächeln geformt hatte. "Ich würde nichts lieber tun. Ja, unbedingt."
Kian lächelte mich breit an, als er den Ring vorsichtig aus seiner Schachtel holte und ihn mir an den linken Ringfinger steckte. An meiner Hand sah er sogar noch schöner aus.
Ich warf mich in Kians Arme, der mich eng an sich drückte. In sein Ohr flüsterte ich: "Wie lange planst du das schon?"
Kurze Stille, bevor er zugab: "Ein halbes Jahr etwa. Obwohl ich schon vorhatte, dich zu heiraten, als du damals von deinem Drei-Tage-Schlaf wieder aufgewacht warst. Da wusste ich, dass ich mir nichts Schlimmeres vorstellen könnte, als mein Leben nicht mit dir an meiner Seite zu verbringen."
Unter Tränen lachte ich. "Ich liebe es, wenn du so romantisch bist. Fast so sehr, wie ich dich liebe."
Lächelnd schlang Kian seinen Arm um meine Taille und küsste mich. Als wir uns wieder lösten, legte ich meinen Kopf auf Kians Schulter. Er nahm meine linke Hand in seine Hand und murmelte etwas, das wie "Wunderschön" klang.
Die Sonne ließ den Ring an meiner Hand funkeln, während ihre Strahlen mich wärmten und...

... weckten. Ich blinzelte mehrmals, bevor ich meine Umgebung erkannte. Ich war Zuhause in meinem Zimmer. Ein Blick nach draußen verriet mir, dass es noch recht früh sein musste. Die Sonne schien sanft in mein Zimmer und streichelte meine Haut.
Ich richtete mich auf, wodurch Kians Arm, der auf meinem Bauch gelegen hatte, hinunter rutschte. Kian wachte durch die Bewegung auf. Müde sah er sich in meinem Zimmer um, bevor er mich fragte: "Ist alles in Ordnung?"
Doch ich war noch nicht von meinem Traum wieder in die Wirklichkeit zurück gelangt. Es hatte sich alles so echt angefühlt. Zuletzt etwas so Lebhaftes geträumt, hatte ich vor meinem Kampf mit Yadier. Das war vor etwa einem Monat gewesen.
Dieses Mal war es jedoch kein Alptraum gewesen, der mich unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Ich hatte gesehen, wie meine Zukunft aussah. Meine Zukunft zusammen mit Kian. Ich war glücklich gewesen. Ich hatte gelacht und mich wohl gefühlt. Ich hatte meine Freunde gehabt. Und meine Liebe zu Kian hatte sich noch stärker angefühlt, als sie jetzt schon war. Es war eine Zukunft, wie ich sie mir als kleines Mädchen ausgemalt hatte.
Ich nahm Kians Hand in meine und drückte sie. Dann drehte ich den Kopf zu ihm und antwortete ihm lächelnd: "Ja, alles in Ordnung."
Zum ersten Mal hatte ich von etwas Positivem geträumt. Von einer Zukunft, auf die man sich freuen konnte. Von einer Zukunft, von der ich nicht abwarten konnte, sie gemeinsam mit Kian zu erleben.

¤¤¤ Ende ¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt