•siebenundfünfzig•

307 22 4
                                    

Die Macht, die mich durchfuhr, überwältigte mich für einen Moment. Die letzten drei Male, bei denen ich meine Fähigkeiten genutzt hatte, hatte ich nie die Kontrolle besessen. Ich hatte stets nur einen Anteil dessen gespürt, was in mir schlummerte. Jetzt in der Lage zu sein, es voll zu begreifen, überforderte mich ein wenig.
Ich hatte so viele Möglichkeiten. Es gab so vieles, was ich tun konnte, was ich unbedingt ausprobieren wollte. Doch nicht jetzt.
Jetzt hatte ich ein bestimmtes Ziel vor Augen. Ich musste den Vampir vor mir außer Reichweite von Kian und mir bringen. Am besten wäre es natürlich, ihn unschädlich zu machen. Aber ich wollte mich nicht direkt an etwas so Großes wagen. Ein kleiner Windstoß würde mich schon zufriedenstellen.
Ich hielt das silberne, schimmernde Band fest in den Händen und zog einmal dran. Es gab kurz nach, bevor es mich unglaublich schnell mit sich zog und mich durch eine Tür wieder hinaus in die Wirklichkeit führte. Doch dieses Mal fühlte ich mich anders. Ich spürte ein Prickeln in meinen Schläfen, meiner Brust und meinen Händen. Als wartete mein Körper darauf, dass ich die Macht, die ich in mir angesammelt hatte, nach draußen ließ.

Da ich keinen weiteren Anhaltspunkt hatte bis auf meine Emotionen, die bisher immer Auslöser meiner Ausbrüche gewesen waren, konzentrierte ich mich auf meine Entschlossenheit, den Vampir weit weg von meiner Kehle zu bringen. Ein Pfeifen in meinen Ohren machte mir den Wind bewusst, der über meine spärliche Kleidung rauschte. Die Kälte kam mir gerade aber eher angenehm vor.
Die roten Augen des Vampirs weiteten sich bei dem Anblick meiner Augen. In der nächsten Sekunde bündelte ich meine Macht und lenkte sie auf den Vampir. Ein kräftiger Windstoß warf ihn fort von mir, sodass er mit einem lauten Krachen gegen einen Baum flog, der etwa vier Meter entfernt stand.
Ich war noch immer fasziniert von der Stärke des Windes, der den starken Vampir von seiner Stelle bewegen konnte, mir aber nicht im Geringsten geschadet hatte, als eben dieser mit einem Stöhnen langsam wieder zu sich kam.

Ich nutzte die kurze Gelegenheit, die sich mir bot, und widmete mich Kian. Der Wolf atmete schwer, als hätte er Schmerzen. Doch sein Blick war fest auf den Vampir gerichtet, bevor seine gelbbraunen Augen meine fanden. In ihnen sah ich nichts als Bewunderung. Bewunderung, die mir galt.
Hätten wir uns nicht in einer solch brenzligen Situation befunden, hätte ich ihn angelächelt.
Doch etwas anderes forderte erneut meine Aufmerksamkeit. Der Vampir richtete sich auf, strich über seine Kleidung, als wollte er jeglichen Schmutz mit einer Handbewegung entfernen, und meinte: "Ich muss zugeben, damit habe ich nicht gerechnet."
"Ich kann Ihnen gerne eine Zugabe geben, wenn es Sie danach verlangt." Um die Ernsthaftigkeit meiner Aussage deutlich zu machen, hob ich die Hände, die Handflächen nach oben zeigend, als könnte ich meine Kraft darin sammeln und sie in einem einzigen Wurf auf ihn richten.
Die Warnung kam an.
Dennoch rang sie ihm nur ein amüsiertes Grinsen ab. "Es braucht schon ein wenig mehr als ein bisschen Wind, um mich aufzuhalten."

Ein Knurren neben mir bewies, dass wir bereit waren, ihm ein bisschen mehr zu geben. Kian baute sich direkt neben mir auf. Die Wärme seines Körpers drang über meine Beine in meinen Körper ein. Selten hatte ich mich so gut gefühlt. Die Nachricht war klar. Wir würden einander beschützen.
Die Hitze, die mich bei dem Gedanken überfuhr, erinnerte mich an meinen Kontrollverlust. Aber erneut war es heute anders. Ich hatte die Zügel noch immer in der Hand. Und so lenkte ich die sich langsam stauende Wärme und vereinte sie mit der prickelden Energie meines Körpers.
Eine Hexe konnte sich nur das nehmen, was die Natur bereit war, ihr zu geben. Doch mir hatte die Natur mehr gegeben. Sie hatte mir genügend Kraft gereicht, um etwas eigenes zu erschaffen. Kombiniert mit der Kraft, die über den Erdboden in meine Füße fuhr und der Luft, die meine Lungen besänftigte. Ich vereinte all dies in meinen Handflächen und musste meine ganze Konzentration aufbringen, um nicht vor Schock auf das zu starren, was mir dort gelungen war.
Knisternde Flammen schlängelten sich über meine Hand hinauf in die Höhe. Sie verletzten mich nicht. Das einzige Anzeichen ihrer Anwesenheit war die angenehme Wärme, die sie versprühten.

Aber sie genügten um dem Vampir zu vermitteln, dass ich nicht hilflos war. Dass ich mich zu wehren wusste. Und dass ich spätestens jetzt keine einfache Beute mehr war.
Die hellen Flammen erhellten unsere Umgebung.
Das Schreien eines Waldkauzes, der links von mir auf einem erhöhten Ast saß, lenkte unser aller Aufmerksamkeit auf das Tier. Dessen starre Augen war jedoch nur auf den Vampir gerichtet. Der Kauz schien keine Furcht vor dem Jäger vor sich zu haben. Als ob ihm etwas Kraft und Zuversicht verlieh. Das Rascheln einiger Blätter auf dem Waldboden ließ mich zu einem Fuchs blicken. Er tauchte etwas entfernt von Kian auf der rechten Seite auf. Doch auch er schien sich nicht für seine Umgebung zu interessieren. Nicht einmal seine Ohren richteten sich nach dem Wolf, der ihn ohne Zweifel zu verletzen wusste. Alles unwichtig. Stattdessen fixierte er den Vampir.
Und ohne es zu sehen, wusste ich, dass es nicht bei zwei Waldtieren blieb. Tief in mir drin spürte ich, dass mir mehrere Tiere meines geliebten Waldes zur Seite standen, um die Gefahr durch den Vampir zu bannen. Um mir zu helfen.

Ein Blick in seine roten Augen verriet mir, dass all das dem Vampir ebenfalls bewusst wurde. Ehrfurcht zeigte sich auf seiner Miene. Er hatte mich unterschätzt. Ja, ihm war klar gewesen, dass ich mächtig war. Doch er hatte nie geglaubt, dass ich diese Macht zu nutzen wusste. Und er hatte bestimmt nicht mit einer solchen Gegenwehr gerechnet. Denn was er hier sah, war nicht nur ein Zeichen meiner Kräfte. Es zeigte ihm auch den Rückhalt, den ich hatte. Er war der Eindringling. Er war in mein Zuhause eingedrungen. Und wenn er nicht sofort ging, dann würde er seine Entscheidung bereuen.
Er war nicht so dumm, das Risiko einzugehen. "Das hier ist noch nicht vorbei", drohte er mir.
Kian knurrte an meiner Seite und fletschte die Zähne, während er langsam auf den Vampir zuging. Beide waren Jäger. Sie waren sich ebenbürtig. Der Vampir war zwar älter und damit wahrscheinlich mächtiger, aber Kian hatte ein höheres Ziel. Und wie er bereits bewiesen hatte, wäre er bereit, alles dafür zu riskieren.

Der Vampir richtete noch ein letztes Mal seinen Blick auf mich. Ich erwiderte ihn mit Trotz und Stärke. Die Flammen in meiner Hand stiegen noch höher.
Im nächsten Moment war der Vampir verschwunden. Das Letzte, was ich von ihm mitbekam, war das Rascheln der Blätter, als er an ihnen vorbei floh.
Ich wartete ungefähr eine Minute, bevor ich mir sicher sein konnte, dass er nicht zurückkehren würde. Dann verließ die Anspannung meinen Körper. Mit einem Zischen verrauchten die Flammen in der Luft. Ein Flügelschlagen und die Eule war hinfort. Auch die anderen Tiere verschwanden zurück in den Schutz der Nacht.
Meine Macht kehrte in mich zurück und verschloss sich erneut in mir. Nur mit der Ausnahme, dass ich jetzt wusste, wie ich sie wiederfinden konnte. Damit kehrte auch mein Bewusstsein für meinen Körper wieder zurück.
Ich sank auf die Knie, als ich das vertraute Brennen an meinen Armen und Händen spürte. Wenigstens rann kein frisches Blut mehr aus der Wunde, die die Nägel des Vampirs hinterlassen hatten.
Ich spürte das Näherkommen des Wolfes, bevor ich ihn vor mir sah. Seine gelbbraunen Augen suchten meine. In ihnen schlummerte eine Frage.
Ich beantwortete sie, in dem ich die Arme um meinen Wolf schlang und seine Nähe an meinem Körper willkommen hieß.

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt