•neun•

496 39 1
                                    

Das Tier blieb zwei Meter vor mir stehen. Sein dunkles Fell schimmerte im Mondlicht. Es betrachtete mich ruhig, als wartete es, welchen Schritt ich nun gehen würde. Auf ihn zu oder von ihm weg.
Ich war mir selbst nicht ganz sicher. Denn obwohl alles in meinem Körper danach schrie, vor dem Tier zu fliehen, vermittelte mir mein Bauchgefühl, dass dies nicht notwendig sei. Der Wolf wollte mir nicht schaden. Es lag eine Neugierde in seinen Augen. Kein Hunger. Kein Tod. Mir weh zu tun, lag fernab seiner Intention. Dessen war ich mir so sicher, dass ich die Angst in die hinterste Ecke meines Körpers trieb, damit sie mich nicht weiter davon abhielt, meinen magischen Moment mit dem Tier zu genießen.
Vorsichtig wagte ich mich einen Schritt nach vorne. Es war nur ein kleiner und mein ganzer Körper war angespannt. Bereit, wieder einen Rückzieher zu machen. Denn obwohl ich es nicht glaubte, konnte ich mir doch nie sicher sein, dass das Tier seinen friedlichen Zustand verließ, um mir als nächstes rasch ins Bein zu beißen.

Der Wolf beobachtete meine Bewegungen genau. Er rührte sich nicht. Ich fragte mich, ob er wohl versuchte, mich nicht zu verschrecken, denn bis auf das langsame Heben und Senken seines Bauches war kein Anzeichen erkennbar, dass er überhaupt noch lebte. 
Ich dachte daran, wie ich mit Cody kommunizierte. Weshalb wir so eine enge Bindung miteinander eingehen konnten. Es war nicht so, dass ich das gleiche enge Verhältnis nun auch mit dem Wolf haben wollte, aber ich wollte ihn gerne dazu bringen, dass er sich mir ein wenig mehr hingab. Da er keine Intentionen hatte, mir Leid zuzufügen, musste es doch sicherlich andere Gründe dafür geben, dass wir uns genau hier zufällig getroffen haben. 
Ich hockte mich auf das Gras unter mir, wobei mich meine Knie abstützten. Zwar befand ich mich dadurch nicht auf Augenhöhe mit ihm, wie ich es eigentlich beabsichtigt hatte, aber ich konnte meiner Meinung nach dennoch ganz gut verdeutlichen, dass wir auf einer Ebene waren. Ich hoffte stark, das Tier sah das ebenso, denn aufgrund seiner Größe überragte es mich jetzt noch deutlich. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Wölfe so groß wurden. Aber vielleicht war das auch nur ein etwas größeres Exemplar, so etwas kam schließlich vor. 

“Tu mir einen Gefallen und friss mich nicht, in Ordnung?” Ich sprach in einem ruhigen, leisen Tonfall, darauf bedacht, dass meine Stimme nicht zu sehr zitterte. Trotz aller Sicherheit, dass dieses Tier keinen Anschein machte, mir zu schaden, musste ich ja nicht das Risiko eingehen, mein Leben vollkommen in seine Hände zu legen. 
Die aufgestellten Ohren des Tieres richteten sich auf meine Frage hin nach hinten. Sein Kopf senkte sich ein wenig. So kam es noch ein kleines Stück auf mich zu. Ich hatte das Gefühl, es wollte Nähe zu mir aufbauen, mich aber gleichzeitig dadurch nicht verunsichern. 
Ich blieb an Ort und Stelle, was ihm wohl verdeutlichte, dass ich nicht vorhatte, vor ihm zu fliehen. Immer noch in einiger Entfernung ließ es sich auf den Boden sinken, sodass sein Bauch das Gras berührte. Währenddessen blieb sein Kopf oben, als wollte es dennoch mich und vor allem seine weitere Umgebung stets im Auge behalten.

“Okay, das ist wohl ein Ja”, murmelte ich. Ich fragte mich, ob es mir vielleicht etwas mitteilen wollte. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass dieses Tier nicht nur meine Gegenwart suchte, sondern auch in ihr verweilen wollte.
Der Wolf sah mir aus seinen rotbraunen Augen wartend entgegen. Ich schluckte schwer, als ich meinen Blick von ihm abwandte, um den Kopf in den Nacken zu legen. So wie andere ihr Gesicht zur Sonne richteten, um von ihrer Wärme und Helligkeit verzaubert zu werden, ersuchte ich die Reinheit und Vollkommenheit des Mondes. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Wolf meinem Blick folgte. 
“Er ist wunderschön, nicht wahr?”
Dunkelbraune Augen trafen auf rotbraune, als wir unseren Blick zeitgleich wieder unserem Gegenüber widmeten.
Ich runzelte die Stirn, während ich das Tier genauer betrachtete. In ihm herrschte eine solche Ruhe. Ich hatte das Gefühl, es verstand mich. Nicht nur das, was ich sagte, sondern auch das, was ich meinte. 

Es schien mir, als hätte der Wolf menschliche Züge. Vielleicht war er aus einem Zoo ausgebrochen, überlegte ich. Obwohl es in der Nähe keinen gab. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass das Tier dann durch die Wälder streifte, um sich dem nächstbesten Menschen vor die Füße zu werfen. 
Ich teilte meine Gedanken mit ihm. “Du bist wohl ein ganz schön zahmer Wolf.”
Das schien ihm offenbar gar nicht zu gefallen. Er stellte die Ohren nach vorne und knurrte kurz mit den Zähnen. Vielleicht war das ein Zeichen, dass ich mich lieber zurückziehen sollte. Aber seine Handlungen passten nicht zu dem weiterhin vertrauten Gefühl in seinen Augen.
“Okay okay, ich nehme das wieder zurück.” Ich lächelte leicht, woraufhin der Wolf den Kopf auf seine vor ihm ausgestreckten Beine legte und mich von unten betrachtete.
“Meinst du, ich könnte dich mal anfassen?”, fragte ich vorsichtig. Die Bewegung des Tieres und seine unterwürfige Haltung mir gegenüber machten mir Mut. 
Statt einer Antwort - wie hätte es mir auch eine geben sollen - rückte es ein Stück nach vorne.
Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob der Wolf mir nicht dennoch in die Hand beißen könnte oder ob es eventuell keine gute Idee wäre, ihn mit meinem menschlichen Geruch zu infiltrieren.

Stattdessen lehnte ich mich ein Stück nach vorne. Ich streckte meine Hand langsam in Richtung seines Kopfes aus, stets bereit, sie wieder zurückzuziehen. Aber der Wolf veränderte sich in seinem Verhalten nicht. Er wartete - auf meine Berührung, auf mich. 
Doch kurz bevor meine Hand sein dunkles Fell berühren konnte, richtete er ruckartig seinen Kopf in die Höhe, sodass ich meine Hand erschrocken zurückzog. 
Verwirrt beobachtete ich, wie er ganz still verharrte. Er hörte etwas, begriff ich. Plötzlich wandte er sich erneut mir zu und stand wieder auf allen Vieren. So überragte er mich mal wieder und zusammen mit dem aggressiven Ausdruck in seinen Augen bekam ich es nun doch wieder mit der Angst zu tun. Wie ein schützendes Schild ummantelte sie mich und machte mich dazu bereit, los zu sprinten, falls ich es musste. 

Der Wolf knurrte mich an. Seine angespannte Körperhaltung ließ mich weiter zurückweichen. Er setzte jedoch nicht zum Sprung an, sondern drängte mich immer weiter nach hinten, in Richtung des Waldstücks, aus dem ich gekommen war. Erst nach einer Weile bemerkte ich, dass er sogar immer wieder zu warten schien, damit ich mich aufrichten konnte und erneut zurück wich. Er wollte mich nicht verletzen, realisierte ich. Er wollte mich vor etwas verstecken. Vielleicht wollte er mich sogar beschützen.
Am Waldeingang blieb ich noch einmal stehen und sah dem Wolf dabei zu, wie er in die Richtung sah, aus der er gekommen war. Danach richtete er seine Aufmerksamkeit noch einmal auf mich.
Er befand sich noch immer in Abwehrhaltung, bereit zum Angriff. “Danke”, flüsterte ich ihm zu und hoffte, er verstand, dass ich begriffen hatte. Danach lief ich in den Wald hinein und ließ mich vom Mond nach Hause führen. Währenddessen lagen rotbraune Augen schützend auf mir. 

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt