•einhundertacht•

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Die Welt war laut und dunkel. Jeder Blitz, der den Himmel erhellte, wurde von einem Grollen verfolgt, das den Boden zum Wanken brachte. Danach herrschte erneut Dunkelheit, bis ein weiterer Blitz direkt über der Lagerhalle ausbrach. Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden.
Die schweren Regentropfen trommelten zusätzlich auf das Dach der Lagerhalle. Sie klangen so drückend und vielzählig, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie das Dach zum Einstürzen gebracht hätten. Doch es hielt stand. Noch.
Das Feuer in der Lagerhalle war endgültig außer Kontrolle. Einzelne Funken sprangen bis an die Decke oder wurden von dem Wind durch die Halle getragen. Jeder Windstoß heizte das Feuer zusätzlich an. Gäbe es nicht so viele Löcher in den Wänden, wäre die Luft innerhalb der Halle nicht mehr zu atmen gewesen.
Doch auch die Halle wurde immer demolierter. Immer mehr Äste und anderes Gestrüpp fegten von draußen hinein durch die Luft. Sie machten vor nichts Halt, zerschnitten mit ihrer Geschwindigkeit alles, was sich in ihrem Weg befand. Alles außer die von mir erschaffene Steinwand um Kian herum und mich.
Der Sturm war direkt über uns. Wir befanden uns im Auge des Sturms. Ich war das Auge des Sturms.

Die Werwölfe schien der Sturm tatsächlich etwas nervös zu machen. Obwohl ich eher glaubte, dass es die Tatsache war, dass ich den Sturm verursacht hatte.
Wo der Vampir abgeblieben war, wusste ich nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich aus dem Staub gemacht hatte.
Der kleinere, mir fremde Werwolf begann, nervös zu fiepen, was mich sehr überraschte. Schließlich hatte er vorher nicht gezögert, mich anzugreifen. Doch das hier schien ihm nicht geheuer zu sein.
Yadiers hingegen blickte sich ständig in der Gegend um, als befürchtete er, dass der nächste Stein, der an ihm vorbei zischte, ihn treffen würde.
Eine Sorge, die ich nicht hatte. Ich fühlte mich elektrisiert. Ich glaubte, die Energie durch meinen Körper zischen und knistern zu hören. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich, sollte ich es wollen, die gesamte Welt in Schutt und Asche legen. Es war ein atemberaubendes Gefühl. Als hätte ich in meiner Hand alle Lebensfäden von allen Lebewesen dieser Erde. Als hätte nur ich die Möglichkeit, sie mit nur einem Gedanken zu trennen und ihnen den Garaus machen.

So unglaublich dieses Gefühl auch war, so befremdlich empfand ich es auch. Es konnte nicht richtig sein, dass eine einzelne Person so viel Macht hatte. Als sich ein langsames Schwindelgefühl in mir breit machte, begriff ich, dass die Natur das auch so empfand. Würde ich wirklich versuchen wollen, alles und jeden auszulöschen, würde ich bei dem Versuch sterben.
Und wenn es eines gab, das ich in den letzten Monaten gelernt hatte, dann, dass dieses Leben für mich noch viel zu bieten hatte. Dass es so vieles gab, das ich noch lernen wollte. Dass es so vieles gab, das ich mit meinen Freunden und meiner Familie zusammen erleben wollte.
Ich wollte leben. Zusammen mit Kian. Und ich würde nicht zögern, alles und jeden zu beseitigen, der es wagte, sich mir dabei in den Weg zu stellen.
Vermutlich war meine folgende Reaktion deshalb ein Reflex. Wahrscheinlich handelte ich, ohne groß darüber nachzudenken.
Keine Ahnung, was Yadier dazu brachte, es zu wagen, mich ein letztes Mal anzugreifen. Vielleicht wollte er nicht, dass er von einer Achtzehnjährigen besiegt wurde. Vielleicht wollte er nicht, dass jemand erfuhr, was hier heute geschehen war. Vielleicht wollte er auch jede Erinnerung an meine Mum auslöschen. Oder er konnte mit dem Schmerz und der Wut in seinem Herzen nicht umgehen und dies war für ihn der einzige Ausweg, diese Gefühle nieder zu drücken.

Entweder er dachte, ich würde ihn nicht bemerken, oder er war einfach lebensmüde. Er entschloss sich dazu, von der Seite auf mich zuzuspringen. Ohne Zweifel mit der Intention, mich zu töten.
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Das Lagerhaus überfuhr ein Klappern. Im nächsten Moment wurde das Dach von dem Haus gefegt. Wenige Sekunden später war ich klitschnass. Das Donnern grollte in meinen Ohren noch stärker.
Bevor Yadier die Chance hatte, mich zu erreichen, wurde er von einem Blitz erwischt. Schneller, als ich blinzeln konnte, wurde es so hell in dem Gebäude, dass ich die Augen zusammen kneifen musste. Als ich sie wieder öffnete, lag Yadier am Boden.
Der Sturm wütete weiter um uns herum.
Seltsamerweise verspürte ich bei seinem Anblick nichts außer Gleichgültigkeit. Hätte ich ihn nicht erledigt, hätte er den Rest meines Lebens Jagd auf mich gemacht. Er hätte weiteren Personen geschadet. So wie er es mit meiner Mum getan hatte.
Die hellen Blitze über uns waren nun eine Warnung an all jene, die es wagten, sich mit mir anzulegen. Und es funktionierte. Der andere Werwolf hatte sich in eine Ecke verkrochen und schien keine Intention zu haben, dort in der nächsten Zeit hervor zu kommen. Den fremden Mann sah ich nicht. Vielleicht war er mit den Schatten verschmolzen.

Die Erkenntnis, dass die Gefahr vorüber war, überspülte meinen Körper mit Leichtigkeit. Sämtliche Anspannung verließ mich, als mein Blick zu der Mauer um Kian herum schweifte. Sie hatte stand gehalten. Weil es mein Wille gewesen war. Dahinter lag er, zwar in Schmerzen, doch lebend. Er würde wieder heilen. Er hatte überlebt.
Während der Regen langsam an Härte und der Donner an Lautstärke verlor, ging ich zu Kian hinüber.
Mir war es gelungen, ihn zu retten, obwohl ich gesehen hatte, wie er gestorben war. Ich hatte die mir vorhergesagte Zukunft geändert. Eine Zukunft, der meine Mum damals nicht entgehen konnte. Aber ich hatte die Kraft gehabt, ihn am Leben zu erhalten.
Umso näher ich ihm kam, umso mehr Kraft verließ meinen Körper, bis ich nicht wusste, ob ich mich noch bewegte oder einfach nur stand und die Welt schwanken sah.
Die Mauer um Kian löste sich und sämtliche Steine und Äste rollten langsam über den Boden und gaben mir den Weg zu ihm frei. Das gewaltige Feuer wurde immer kleiner, bis es die Größe eines Lagerfeuers erreichte und schließlich erlischte. Als ich mich neben Kian nach unten sinken ließ, war der Himmel wieder blau.
Dann forderte mein Körper die Kraft ein, die ich am heutigen Tag verbraucht hatte. Alles um mich herum wurde schwarz und ich sackte ein. Mein Kopf wurde von einer Hand davor bewahrt, den harten Boden zu treffen.
In der Ferne hörte ich ein lautes Hundebellen und dann Stimmen. Kurz darauf verlor ich das Bewusstsein.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt