•dreiundvierzig•

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Kian

Die Gesellschaft, in der ich mich befand, konnte ich mir nicht unpassender vorstellen. Mein Vater und John passten mich ab, als ich mein Zimmer verließ. Ich vermutete, dass sie einfach nur darauf gewartet hatten, um mich wie durch einen Zufall in ein Gespräch verwickeln zu können. Eigentlich hatte ich heute nicht mehr vorgehabt, mich mit irgendjemandem zu unterhalten. Stattdessen war mein ursprünglicher Plan, mich zu verwandeln, dann hoffentlich auf Lilith zu treffen und ihr zuzuhören. Ich war schon an einem Punkt angelangt, an dem es mir vollkommen egal war, worüber sie sprach. Sie könnte mir das Rezept für einen Apfelstrudel vorlesen und ich würde ihr meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenken und an ihren Lippen hängen, als gäbe es nichts Bedeutenderes für mich auf dieser Welt.
Leider kam mir jemand in den Weg, den ich nicht mit einfachen Worten und einer Entschuldigung abwimmeln konnte.
Vor allem John nicht, der mich als seinen direkten Informanten in Bezug auf seine Tochter betrachtete, anstatt sich ihr Vertrauen zu erlangen und so vielleicht selbst mit ihr in ein Gespräch zu kommen. Doch das war nicht meine Angelegenheit und ich würde mich hüten, mich einzumischen.

John lächelte mich freundlich an. Wenn er mich so ansah, dann fiel es mir leicht, mich wieder an den John zu denken, der meinem Vater nicht nur bei allem zur Seite stand, sondern der geholfen hatte, mich großzuziehen. Er nahm bei Weitem keine so wichtige Rolle in meinem Leben ein wie mein Dad. Aber er verbrachte viel Zeit damit, mich auf das vorzubereiten, was mich erwartete. Zuerst beschränkte sich das darauf, meiner Schwester zur Seite zu stehen, sollte sie Alpha werden. Nachdem sie uns aber verließ, nahm er mehr meiner Zeit in Anspruch, um die verlorene Zeit wiedergutzumachen und mich zu einem Anführer auszubilden.
Leider hatte mein Respekt ihm gegenüber in den letzten Monaten ein wenig gelitten, angefangen mit seiner Entscheidung, seiner Tochter nichts über ihr Schicksal zu sagen.
"Willst du noch einmal raus? Dich verwandeln?", wollte Dad von mir wissen.
Ich nickte und hoffte, das reichte ihnen aus, um zu erkennen, dass ich nicht in der Stimmung für jegliche Konversationen war.
"So spät noch?" Sein Blick fand die Uhr an der Wand. "Morgen ist Schule."
Er sagte das, als müsste mich allein diese Information dazu bringen, ins Bett zu fliegen und zu schlafen.
"Ich weiß", meinte ich stattdessen und ging meinen Weg weiter, einfach an den beiden vorbei. "Ich werde nicht lange wegbleiben." Das war vermutlich eine Lüge. In Liliths Gegenwart vergaß ich häufig die Zeit.

"Bevor du gehst, würde ich dich gerne noch etwas fragen." John trat näher an mich heran. Es wunderte mich nicht, dass die beiden mir gefolgt waren. "Ich sehe dich nicht häufig und komme deswegen selten dazu, dich zu fragen, wie es meiner Tochter so geht. Wie sie sich so macht. Wie... weit sie bereits ist."
Ich ärgerte mich, mein Zimmer nicht schon früher verlassen zu haben. Dann müsste ich mich eventuell nicht jenen Fragen stellen, denen ich am liebsten aus dem Weg gehen würde.
"Warum fragst du sie nicht selbst?" Meine Frage klang trotzig und verriet nur allzu gut, wie groß meine Lust war, mich gerade mit den beiden auseinanderzusetzen. Doch ich konnte nicht anders.
"Lilith redet nicht mit ihm", kam mein Vater seinem besten Freund zur Hilfe und warf mir einen Blick zu, der mich wohl daran erinnern sollte, dass er mir das schon erzählt hatte.
In der Hoffnung, das Gespräch so schneller zu beenden, erklärte ich: "Es geht ihr gut. Sie ist glücklich. Sie hat Freunde. Sie findet sich langsam in dieser neuen Welt zurecht, in die sie förmlich hinein geschubst wurde, weil sie nicht besser darauf vorbereitet wurde." Ein kleiner Seitenhieb gegen John, der diesen jedoch, ohne mit der Wimper zu zucken, entgegen nahm. Ganz so, als sähe er nicht ein, dass er sich diesbezüglich vielleicht schlecht fühlen müsste.

Ich ging um John herum und öffnete die Haustür. Leider kam ich nicht dazu, sie auch hinter mir zu schließen, da er und mein Vater mir direkt folgten.
"Ich hatte immer gehofft, ihre Mutter würde diese Aufgabe übernehmen. Nachdem Lilith sich im jungen Alter nicht verwandelte, ging ich davon aus, dass sie mehr Zeit bräuchte. Immerhin sind nicht beide ihre Elternteile Werwölfe." John verlor kein Wort darüber, dass Liliths Mutter eine Hexe gewesen war. "Als die zwei alleine lebten, rechnete ich stark damit, dass ihre Mutter ihr mehr von unserer Welt erzählen würde, auch wenn Lilith bis dato noch kein fester Teil davon war. Doch sie entschied sich, das nicht zu tun. Als wollte sie ihre Tochter davor schützen. Eine Entscheidung, die ich nie verstanden hatte. Keiner kann so gut für sie sorgen wie ihre Artgenossen."
Was wahrscheinlich auch der Grund dafür war, warum Liliths Mutter sich entschieden hatte, daraus ein Geheimnis zu machen. Sie wollte ihrer Tochter schützen. Vor den Werwölfen. Vor den Wesen der Nacht, die die Macht ihrer Tochter nur für sich ausnutzen würden wollen.
Obwohl ich Liliths Mutter nie kennengelernt hatte, konnte ich nicht anders, als Respekt für diese Frau zu empfinden. Sie hatte ihr ganzes Wesen, alles, was sie ausmachte, so gut es ging, vor ihrer Tochter versteckt, um dafür zu sorgen, dass diese sicher aufwachsen konnte. Dass diese ein Leben führen konnte, ohne sich Gedanken um die eigentlichen Gefahren draußen zu machen.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt