•siebzehn•

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Der Schmerz betäubte mich. Lediglich ein Keuchen kam über meine Lippen. Mehr konnte ich mir mit meiner Konzentration nicht erlauben.
Über die nächste Wurzel sprang ich. Die folgende sah ich nicht kommen. Meine Sehkraft war zu schlecht, kam nicht gegen die der Kreatur an.
Und so fiel ich. Krabbelte weiter. Es reichte nicht aus.
Es baute sich vor mir auf. Groß und bedrohlich. Als es nach meiner Kehle schnappte, konnte ich nur schreien und um mich schlagen. Bevor seine Zähne mein Fleisch durchdringen konnten, wurde die Kreatur von mir gerissen. Die andere Kreatur hatte das Ungeheuer von mir gestoßen. Sie stellte sich zwischen uns. Als wollte sie mich beschützen.
Ich machte mir keine Gedanken über die Intention des Neuankömmlings. Ich musste mich in Sicherheit bringen. Ein schmerzerfülltes Stöhnen wich über meine Lippen, als ich mich abstützen wollte, um mich aufzurichten. Das Geräusch ließ die neue Kreatur sich zu mir herumdrehen. Als sorgte sie sich um mich. Doch es waren ihre rotbraunen Augen, die mich gefangen hielten und mich Hoffnung schöpfen ließen. Ich konnte es noch schaffen. Mit seiner Hilfe konnte ich das hier überstehen.
Es war die Hoffnung, die mich das Ungeheuer übersehen ließen. Die mich nur entsetzt die Augen aufreißen ließ, als es seine Reißzähne in seine Haut rammte. Ich streckte die Hand aus. Er musste sich festhalten. Nicht loslassen. Ich wollte nicht Schuld sein. Nicht sein Verderben bedeuten.
Die rotbraunen Augen sahen meine Hand an. Doch er handelte nicht. Er ließ sich von mir wegzerren. Um mich zu beschützen. Mich zu retten. Auch wenn es sein Ende bedeutete...

Ich schlug die Augen auf. Ohne einen Schrei, ohne einen schweißgebadeten Körper. Ich wachte auf, als sei nichts geschehen. Als hatte ich akzeptiert, dass ich nichts gegen mein Schicksal ausrichten konnte. Dass ich wehrlos, klein und unbedeutend war.
Ohne den Blick von meiner Decke abzuwenden, griff ich nach meinem Handy. Nach einigen Anläufen fand ich es. Ich kniff die Augen zusammen, als das helle Display mein dunkles Zimmer beleuchtete. Es dauerte nicht lange, bis ich die Uhrzeit erkennen konnte. 05:23 Uhr.
Seufzend packte ich mein Handy zurück und starrte weiter an die Decke. Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begann ich, die Punkte an der Decke zu zählen. Bei 387 verlor ich den Überblick und gab auf. Langsam richtete ich mich auf. Die ersten Sonnenstrahlen hatten sich mit der Zeit bereits ihren Weg in mein Zimmer gesucht. Sie wagten sich bis zum Rand meines Bettes, doch trauten sie sich nicht, weiter an mich heranzukommen.
Ich stand auf und tastete mich vorsichtig an meine Veranda heran. Die Sonne wärmte meine Beine. Es war eine angenehme Wärme. Sie fühlte sich fast wie eine Umarmung an.
Die Sonne legte einen sanften Glanz auf den stillen Wald. Nichts rührte sich darin. Ohne auch nur ein Schaukeln der Baumwipfel ließ nichts darauf schließen, dass er noch lebte.
Die angenehme Wärme schob sich meine Arme hinauf. Sie wollte mich von der beunruhigenden Stille des Waldes ablenken.
Ich seufzte schwer auf, bevor ich einen Schritt zurücktrat und die Gardinen zuzog. Die Dunkelheit begrüßte mich und die Kälte war mir deutlich willkommener.

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Als ich an den Tisch herantrat, beendete Beah gerade ihr Frühstück. Sie schenkte mir ein warmes Lächeln, auf das ich nicht einging. Stattdessen wandte ich mich Cody zu, der hinter mir her trottete. Seine Rute war gesenkt und auch sein Kopf hing ihm praktisch zwischen den Beinen. Ich wusste, wie er sich fühlte. Mir erging es ebenso.
Veronica warf ihm einen skeptischen Blick zu. "Wird er krank? Er sieht ein wenig niedergeschlagen aus."
"Es ist nichts dergleichen", versicherte ich, während ich Cody sein Frühstück bereitete. "Morgen wird es ihm wieder besser gehen."
"Das freut mich. Und wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?" Veronica deutete auf den Stuhl, der Beah gegenüber stand. Wahrscheinlich sollte es eine Einladung sein, mich hinzusetzen.
Bevor ich ihrer Aufforderung nachkam, platzierte ich Codys Futter vor ihm. Er würdigte dieses allerdings keines Blickes, sondern ließ sich stattdessen auf die kühlen Fliesen sinken.
Ich nahm auf dem Stuhl Platz, hatte aber das Gefühl, ich betrachtete das Toast, das Veronica vor mir ablegte, so wie Cody es getan hatte. Ich murmelte trotzdem ein "Danke", machte aber keine Anstalten, es tatsächlich zu essen.
Ich spürte Beahs Blick auf mir und hörte ihren Kopf förmlich rattern, während sie sich die Frage stellte, ob sie nachhaken sollte, weshalb ich heute offensichtlich noch schlechter gelaunt war als die letzten Morgen. Sie entschied sich dagegen, wofür ich sehr dankbar war.

"Du hast heute Musik, nicht wahr?"
Ich nickte.
"Cool. Ich habe gestern mitbekommen, wie Cavyn dich darauf angesprochen hatte und meinte, er freue sich schon sehr auf diese Stunde mit dir, weil du sie wohl letztes Mal deutlich unterhaltsamer gestaltet hattest." Beah grinste bei der Erinnerung.
Ich konnte ihre Freude leider nicht teilen. Musik bedeutete für mich eine Stunde mit Kian, den ich noch immer ignorierte. Oder zumindest versuchte ich es. Ich war mir nicht sicher, inwieweit ich das in Musik verwirklichen könnte.
Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Cavyn gestern nur so positiv von unserer letzten Musikstunde gesprochen hatte, da er mich hatte aufheitern wollen. Er konnte ja auch nicht wissen, dass ich mich nur nicht am Gespräch beteiligt hatte, weil ich meine ganze Mühe aufbringen musste, um nicht Kians Blick zu begegnen, der mich den gestrigen Tag über ständig verfolgt hatte. Selbst als Kian nicht körperlich anwesend gewesen war, hatte ich ihn gespürt. Es hatte mich verrückt gemacht.
"Lass dich nicht von dem Musiklehrer verunsichern. Viele meinen, er sei ein bisschen seltsam. Aber er hat auch eine liebe Seite. Nur zeigt er die nicht sehr häufig. Ich hoffe, dass ihr euch versteht. Du magst Musik, oder? Dann wäre es natürlich noch optimaler, wenn ihr euch vertragen könntet."
Ich nickte wieder zustimmend.
Um meinen Musiklehrer machte ich mir gar keine Sorgen. Ich mochte ihn. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich daran so schnell etwas ändern würde.

Mein Vater betrat die Küche mit einem euphorischen "Guten Morgen". Veronica lächelte erleichtert. Ich bekam den Eindruck, sie war froh, noch jemanden im Raum zu haben, der sich auf einen neuen Tag freute. Beide gaben sich einen Kuss, bevor er sich Beah und mir zuwandte. Sein Blick wanderte zu der freudigen Beah und dann von meinem Toast zu mir.
Er runzelte die Stirn, als müsste er überlegen. Er blickte zu Cody, der sich noch immer nicht gerührt hatte.
"Ihr müsst gleich los", teilte Veronica uns mit einem Blick auf die Uhr mit. Klasse, bedeutete das etwa, dass mein Vater uns fuhr?
Ich nahm mir eine Dose aus der Schublade neben mir und packte mein Toast dort ein. Vielleicht entwickelte ich ja noch plötzlich einen Hunger. Für den Fall der Fälle wäre ich dann gerüstet.
Ich wollte gerade aufstehen, als Dad plötzlich vor mir stand. Er sah von oben auf mich herab, bevor er sich hinkniete, sodass ich nach unten blicken musste.

"Lilith", er schluckte einmal schwer, als wüsste er nicht, wie er das Thema einschneiden sollte. Veronica und Beah schienen nicht zu wissen, wie sie sich zu verhalten hatten angesichts der skurrilen Situation. "Lilith", begann er erneut. Anhand seines Tonfalls erkannte ich, worüber er mit mir sprechen wollte und hätte ihn am liebsten schon unterbrochen, bevor er begonnen hatte.
"Lilith", fing er zum dritten Mal an, "ist alles in Ordnung mit dir?"
Ich runzelte die Stirn. Wirklich? Das war es, das er mich fragte? Er konnte es nicht einmal aussprechen.
"Klar, warum sollte nicht alles in Ordnung sein?"
Mein Vater fühlte sich ganz offensichtlich unwohl. "Wenn du heute nicht zur Schule gehen willst, dann ist das völlig okay. Ich entschuldige dich. Oder willst du mit mir darüber sprechen? Es ist alles total in Ordnung für mich. Sag mir nur, was du willst und ob es dir gut geht."
Ich war mir nicht sicher, ob ich freudlos lachen oder wortlos gehen sollte. Wenn er doch schon so besorgt war, sollte er mir zumindest sagen können, weswegen er sich solche Sorgen machte. Aber ein Blick in seine Augen und ich wusste, dass er mir diesen Gefallen nicht tun konnte.
Heute würde ein scheiß Tag werden. Das wusste ich ab dem Moment, in dem ich meine Augen geöffnet hatte. Warum also nicht mal ehrlich zu den eigenen Gefühlen sein?
"Nein, es geht mir nicht gut. Ich fühle mich beschissen. Ich fahre trotzdem zur Schule. Nein, ich will nicht mit dir über Mums Tod sprechen, wenn du es noch nicht einmal sagen kannst."
Vor einem Monat ging es mir noch gut. Vor einem Monat hatte ich noch nicht geahnt, was auf mich zukommen würde, wenn ich hierher zog.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt