•sechzig•

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Kian

Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so gut geschlafen hatte. Es musste schon Jahre her sein. Meistens lag es daran, dass ich es mir nicht leisten konnte, auszuschlafen. Es gab immer etwas tun, entweder war es die Schule oder es war meine Arbeit.
Aber beides war mir heute herzlich egal. Heute hatte ich mir die Zeit genommen, die ich wollte. Und dass ich sie zusammen mit Lilith verbringen konnte, machte alles nur noch besser.  
Sie schlief noch immer. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sie zu wecken, hatte mich dann doch entschieden, sie noch ein wenig zu beobachten. Glücklicherweise konnte mich dabei keiner sehen, denn mir war durchaus bewusst, dass ich aussehen musste wie ein Stalker. Oder ein Creep. Was auch immer von beiden schlimmer war.

Sie sah aber einfach so bildschön aus, dass ich nicht anders konnte, als mich von ihrem Anblick gefangen nehmen zu lassen. Ihr langes rotes Haar hob sich stark von den hellen Laken ab und umrandete ihr Gesicht wie ein Bilderrahmen, der versuchte, der abgöttischen Schönheit seines Gemäldes gerecht zu werden. 
Lilith wirkte so friedlich, dass ich mir wünschte, ich würde nichts anderes mehr sehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich ein Anblick je so glücklich machen könnte, wie es der ihre tat. 
Deshalb war es umso wichtiger, dass wir unsere Konflikte endlich hinter uns ließen. Das täte meiner Gesundheit wirklich gut. Und meiner Obsession bezüglich Lilith wäre es auch zuträglich, wobei ich ihr das natürlich nicht sagen würde. 

“Will ich wissen, wie lange du mich schon so ansiehst?” Lilith sah mich amüsiert an.
Etwas verlegen wandte ich den Blick ab und fragte mich prompt, wie lange ich sie schon angestarrt hatte, ohne mitzubekommen, dass sie bereits wach war. Sie war meiner Konzentration wirklich nicht zuträglich. Ich hatte das Gefühl, sobald ich bei ihr war, verlor ich jeglichen Fokus und mein ganzes Sein richtete sich nur auf sie aus. Um ehrlich zu sein, hatte ich allerdings nichts dagegen. 
Glücklicherweise erwartete sie keine Antwort von mir, sondern fragte: “Wie lange haben wir geschlafen?”
“Sechs Stunden.” Da ich vor ihr wieder eingeschlafen war, war ich auch etwas früher aufgewacht. 
Erschrocken richtete sie sich auf, sodass wir nun beide in ihrem Bett saßen. “Ist schon jemand wiede nach Hause gekommen?”
Ich schüttelte den Kopf. Wir waren die einzigen hier. Was bedeutete, dass uns nichts davon abhielt, miteinander über alles zu reden. 

Zu dem gleichen Schluss schien Lilith auch zu kommen. Sie räusperte sich und öffnete den Mund, bevor ihr schlagartig etwas einfiel und sie ihren Kopf redete. Ich vermutete, dass sie Cody ansah. Der hatte sich noch immer keinen Zentimeter bewegt. Wahrscheinlich schlussfolgerte sie das Gleiche, was ich mir auch schon gedacht hatte, als ich ihn gesehen hatte. Der Zauber der Hexe musste eine andere Wirkung auf ihn gehabt haben. Oder aber es war ein anderer Zauber gewesen, der Cody nun gefangen hielt.
Sichtlich besorgt wollte Lilith wissen: “Er lebt doch aber noch, oder? Kannst du sein Herz hören?”
“Ja”, versicherte ich ihr. “Sein Herz schlägt und er atmet. Allerdings beides ungewöhnlich langsam, als hätte sein Körper sich in einen Ruhemodus versetzt, um Energie zu sparen.”
Ich konnte sehen, dass die Information sie nicht gerade beruhigte. 
“Wenn du willst, können wir uns auch zuerst darum kümmern. Wir könnten ihn untersuchen lassen oder-”
“Nein”, unterbrach mich Lilith und wandte langsam den Blick von ihrem geliebten Hund ab. “Ich will das nicht noch länger vor mir herschieben. Kleine Schritte. Wir reden. Später kümmern wir uns um alles andere.”
Zuerst sollten wir unsere Differenzen beseitigen. Sie sagte es nicht, aber ich konnte es in ihrem Blick lesen. 

Bevor Lilith zu reden begann, kam ich ihr zuvor: ”Ich habe die ganzen letzten Tage damit verbracht, mich mit allen Mitteln davon abzulenken, dass zwischen uns nicht mehr alles wie früher ist. Ich habe mich in meine Arbeit gestürzt und alles angenommen, was mir als Ablenkung genügte. Und doch habe ich jede freie Minute damit verbracht, mich zu fragen, ob du mir verzeihen kannst. Ich will dich zu nichts drängen und das werde ich auch nicht machen. Ich habe dir gesagt, du sollst dir alle Zeit der Welt nehmen und dazu stehe ich. Ich möchte nur, dass du weißt, was es mit mir macht, dir nicht nahe sein zu dürfen. Dass ich das Gefühl habe, mir fehlt etwas, wenn ich dich nicht sehe. Ich erzähle dir das nicht, damit du dich unter Druck gesetzt fühlst. Ich will, dass du weißt, dass für mich alles in Ordnung sein wird. Jede Entscheidung, die du fällst, wird die richtige sein und ich werde sie akzeptieren. Ich wünsche mir nur, dass diese Ungewissheit endlich endet. Ich möchte nicht, dass du meinen Blicken ausweichst, weil du nicht weißt, was sie bedeuten. Ich möchte, dass wir wieder miteinander reden und lachen können. Dass du mir vertraust. So wie früher.”

Lilith war sichtlich berührt von meinen Worten. Mir war es nur wichtig, dass sie endlich ausgesprochen wurden.
“Ich habe letzte Nacht mit dir in einem Bett geschlafen. Glaubst du wirklich, ich bin noch sauer auf dich?”
Ihre Frage verwirrte mich. Ich zuckte mit den Schultern. “Ich will nicht aus deinen Handlungen heraus auf etwas so Bedeutendes schlussfolgern. Ich will es von dir hören.”
Sie seufzte, bevor sie ihre Schultern nach hinten drückte und mir fest in die Augen sah. Ich tat mein Bestes, mich nicht von all den Schrammen ablenken zu lassen, die ihren Körper übersäten und unterdrückte so meine Wut auf den Vampir, der ihr all das Leid zugefügt hatte. Hätte ich nicht gerade etwas derart Wichtiges vor, hätte ich mich auf den Weg gemacht, um ihm alles, was er ihr angetan hatte, zehnfach wieder zurückzuzahlen. 
Stattdessen ließ ich mich von ihren dunklen Augen erneut gefangen nehmen und saugte jedes ihrer Worte gebannt in mir auf.

“Ich kann warten.”
Ich blinzelte mehrmals verwirrt. Unsicher, ob ich sie richtig gehört hatte.
Grinsend rollte Lilith mit den Augen und erklärte: “Wenn du meinst, dass es etwas gibt, das du mir aus welchen Gründen auch immer nicht sagen kannst, dann ist das okay für mich. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du nichts unbegründet tust. Und ich vertraue dir. Ich vertraue dir, dass du weißt, was die richtige Entscheidung ist. Und ich bin gewillt, deinem Urteil zu folgen.”
Es fehlte mir an Worten. Sie gab mir mehr, als ich zu träumen gewagt hatte. Nicht nur war sie mit den Geheimnissen einverstanden, die ich ihr noch immer vorenthielt, zudem legte sie ihr gesamtes Vertrauen in mich. Sie hatte mir bewiesen, wie viel Glauben sie in mich hatte. Und sie hatte mir gezeigt, dass es mit uns noch nicht vorbei war.
“Danke.” Meine Stimme war ein wenig heiser. “Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um deinem Vertrauen gerecht zu werden.”
Lilith lächelte mich an. “Daran habe ich keinen Zweifel.”
Ihr Lächeln war mein Sechser-Gewinn im Lotto und das Schönste, was ich je gesehen hatte. Es teilte sich den ersten Platz mit der Frau, die es trug. 

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt